Hymne an Die Nacht
Sozialismus, reserviert für die damaligen Parteibonzen. Das sogenannte gewöhnliche Volk hätte sich ein solches Hotel nicht leisten können. Sei tapfer, wir hätten es schlimmer treffen können.«
Joanna musterte die unproportioniert wirkenden Mahagonisäulen, die der Statik des riesigen Raumes folgten, dann die zwei massigen Sitzgruppen aus schwarzem Leder unmittelbar vor den Aufzügen am hinteren Ende der Halle, und zuletzt wanderte ihr Blick nach oben zu den Deckenleuchten im Art-Déco-Stil, deren gnadenlos weißes Licht dieser Umgebung zusätzliche Kälte verlieh.
»Ich weiß nicht, ob ich das hier lange aushalte«, murmelte sie, bevor sie Stanislaw und Igor in den Lift folgte.
»Hoffentlich funktioniert der«, murrte sie, doch oben erwartete sie eine angenehme Überraschung. Man hatte ihnen zwei nebeneinanderliegende Zimmer gegeben, und als Joanna mit der elektronischen Schlüsselkarte öffnete, fand sie eine unerwartet behagliche Unterkunft vor. Der Raum war in hellen, warmen Tönen gestaltet, das Bad modern und gut ausgestattet, und der Blick von dem großen Fenster auf die Altstadt von Brasov, in der jetzt immer mehr Lichter aufleuchteten, wirkte einladend.
Erst als sie sich umwandte und in Stanislaws umwölktes Gesicht sah, war sie sich nicht mehr sicher, ob diese Reise in seine Vergangenheit wirklich eine gute Idee gewesen war.
*
Joanna stand vor dem Fenster und wartete, dass die Sonne über Brasov aufging. Sie hatte sich das Frühstück auf ihr Zimmer bringen lassen. Ihr Blick fiel auf eine schön restaurierte Kirche direkt gegenüber und auf einen kleinen Park. Sie nahm die Teetasse, trank einen Schluck und biss in ein Brötchen. Natürlich war ihr nicht entgangen, dass Stanislaw mitten in der Nacht zusammen mit Igor sein Hotelzimmer verlassen hatte. Ihre Sinnesorgane waren ähnlich verfeinert wie seine, das war Teil seines Erbes. »Du wirst dich daran gewöhnen müssen«, hatte er vor kurzem zu ihr gesagt, als es um seine nächtlichen Aktivitäten gegangen war, dabei sollte er doch am besten wissen, in welchem Konflikt sie gefangen war. Woher war er sich so sicher, dass sie schließlich ihren Abscheu gegen seine dunkle Seite aufgeben würde?
Ihr Mobiltelefon summte. »Daphne …!«
»Ich bin froh, dich zu erreichen«, sagte die Musikerin. »Seid ihr jetzt schon in den Karpaten?«
»Ja, wir sind gestern spät in Brasov angekommen.«
»Dann bin ich beruhigt, Joanna. Stanislaw hatte sich bei mir melden wollen, und als ich nichts mehr von ihm hörte, fing ich an, mir Sorgen zu machen. Ist alles in Ordnung bei euch?«
»Ja, Daphne, eigentlich schon …«
»Aber?«
»Es ist …, ach du meine Güte …«, und dann begann sie zu erzählen und konnte nicht mehr aufhören. Als sie von ihrem Erlebnis auf der Klosterinsel berichtete, hörte sie Daphne am anderen Ende der Leitung tief einatmen.
»Was hast du?«, fragte sie verunsichert. »Hat Stanislaw diesen Ort früher schon einmal erwähnt?«
»Nein, das hat er nicht«, Daphnes Stimme klang aufrichtig, »aber was du mir geschildert hast, ist sehr beklemmend.«
»Ja«, murmelte Joanna. Auch sie würde die Erinnerung daran am liebsten aus ihrem Gedächtnis tilgen, wenn das möglich wäre.
»Wie geht es jetzt weiter, Joanna? Fahrt ihr von Brasov aus spontan drauflos, oder hat Stanislaw die Route genau geplant?«
»Wir haben bisher nicht darüber gesprochen. Also, ich weiß es nicht. Eigentlich würde es nicht zu ihm passen, ohne einen konkreten Plan vorzugehen. Aber du weißt ja selbst, wie überstürzt unsere Abreise war, und wir sind auch nicht gemeinsam nach Rumänien gekommen. Ich habe den ersten Flieger nach Bukarest genommen, und er ist zusammen mit Igor im Wagen gereist.«
»Und wie reagiert Stanislaw auf das Transsylvanien von heute? Ich kenne die Gegend nicht, aber ich habe recherchiert, im Internet und bei Musikerkollegen, die von dort stammen. Glaub mir, das kann sehr bitter für ihn werden. Und du als seine Tochter wirst dann sehr stark sein müssen.«
Joanna schwieg einen Moment. »Das weiß ich. Ich habe längst begriffen, worauf ich mich mit dieser Reise in seine Vergangenheit eingelassen habe. Trotzdem freue ich mich noch immer, dass wir das zusammen erleben können. Es ist nicht die richtige Jahreszeit, wir sind noch immer auf der Flucht vor Kyrill, aber es ist auch ein großes Abenteuer für uns als Vater und Tochter, denn diese Rollen müssen wir erst lernen.«
Daphne seufzte durchs Telefon. »Entschuldige, ich vergaß,
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