Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hymne an Die Nacht

Hymne an Die Nacht

Titel: Hymne an Die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvia Madsack
Vom Netzwerk:
zweitägigen Besichtigungstour in Bukarest erzählt hatte. Auch Tomas hatte ungarische Wurzeln, und er hatte ihr nicht verschwiegen, dass er sich den Seinen, die im Land jetzt eine Minderheit bildeten, näher fühlte als den Rumänen. Als Historiker hielt er sich aber an die Fakten, und die besagten nun einmal, dass der nördliche Teil Transsylvaniens nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Friedensvertrag von Trianon an Rumänien zurückgefallen war. In Folge hatten viele Ungarn das Land verlassen, und es siedelten sich vermehrt Rumänen dort an.
    »Es könnte doch so etwas wie eine friedliche Koexistenz geben«, schlug sie vor.
    »Nach außen hin vielleicht, aber nicht wirklich. Ungarn und Rumänen sind ethnische Gruppen, die nicht viel miteinander gemeinsam haben.«
    »Was für eine komplizierte Geschichte. Aber als deine Tochter bin ich ja dann auch zur Hälfte ungarisch, oder?«
    »Ja, das bist du«, erwiderte er in ungewohnt feierlichem Ton. »Obwohl …«
    »Obwohl was?«
    »Du hast auch walachisches Blut in dir«, sagte er langsam. »Das ist jedoch eine Geschichte ganz anderer Art.«
    Ihr war sofort klar, dass er nicht weiter darüber reden wollte, zumindest nicht in diesem Moment. »Lass uns die Burg besichtigen«, bat sie ihn.
    Im Moment, als sie auf den Burgeingang zugehen wollten, hörten sie aus einiger Entfernung Männerstimmen. Stanislaws Nasenflügel zuckten kaum merklich. »Das sind die Wachleute«, wisperte er. »Wärst du nicht dabei, wüsste ich, was ich tun würde, aber so muss ich mir wohl etwas anderes einfallen lassen.«
    Joanna verzog das Gesicht. »Zum Glück für die beiden bin ich dabei. Was nun?«
    »Igor wird sie ablenken, und währenddessen gehen wir einfach hinein.«
    Er flüsterte Igor etwas ins Ohr, worauf der Wolfshund losrannte. Rasch war er aus Joannas Blickwinkel verschwunden. Danach hörte sie ihn bellen und die Wachleute fluchen. »Komm!« Stanislaw packte ihre Hand und zog sie mit sich fort. Über steiniges Gelände folgte sie ihm hinauf, bis sie ein stumpfes Geräusch vernahm.
    »Was war das? Es klang wie ein Aufprall.« Sie blieb stehen.
    »Du musst dich nicht fürchten. Die Wachleute haben einen Stein nach Igor geworfen, aber gegen ihn haben sie keine Chance.«
    »Bist du sicher?«
    »Ganz sicher. Lass uns weitergehen.«
    Schweigend setzten sie ihren Weg fort, bis sie vor einem Torbogen ankamen. »Von hier aus gelangt man ins Innere der Burganlage«, sagte er gedämpft. »Bist du bereit?«
    Sie nickte und musste sich zwingen, Interesse an dieser Unternehmung zu zeigen. Was war mit ihr los? Sie hatte sich so sehr auf diese Reise mit Stanislaw gefreut, geradezu begierig war sie gewesen, all diese Stätten seiner frühen Jugend kennenzulernen und gemeinsam mit ihm die vertrauten Orte zu entdecken. Doch jetzt empfand sie nichts von dem Zauber, den sie erwartet hatte.
    Ihr schien, als blicke sie nur auf einen Steinhaufen von gewaltigen Ausmaßen, dessen Umrisse im spätherbstlichen Dunst immer mehr verschwanden, doch natürlich wusste sie, dass das nicht stimmte. Die Kirchenburg von Rasnov war ein bedeutendes Kulturdenkmal in Transsylvanien. Seit dem frühen Mittelalter hatte sie der Bevölkerung des Ortes als Zufluchtsort gedient. Wann immer Rasnov von feindlichen Truppen attackiert worden war, hatten sich die Bewohner innerhalb der Mauern dieser Zitadelle verschanzt.
    Vorsichtig setzte Joanna einen Fuß vor den anderen, während sie Stanislaws Spur folgte, denn jetzt führte ein holperiger Pfad in eine Gasse aus steinigem Geröll. Er blieb stehen und reichte ihr die Hand. »Gib acht«, sagte er, »hier gibt es keine gesicherten Wege.«
    Als er sich umwandte und weiterging, hatte sie Mühe, ihm zu folgen. In ihrem Reiseführer hatte sie gelesen, dass das Areal der Kirchenburg einem kleinen Dorf ähnelte, in dem die Bewohner alles fanden, was sie zum Leben brauchten. Was genau wollte er ihr zeigen?
    »Gedulde dich noch einen Moment«, rief er ihr über die Schulter zu und bedeutete ihr zu folgen.
    »Ich bin gespannt«, murmelte sie. Inzwischen war sie müde, durstig und hungrig, und mit jedem weiteren Schritt schmerzten ihre Füße mehr. Stanislaw lief voraus, er kannte den Weg, wie sonst hätte er die Stelle mit den Schießscharten finden können, vor der sie jetzt stehen blieben?
    »Das hier wollte ich dir zeigen«, hörte sie seine leise Stimme neben sich.
    Die bewaldeten Hügel der Karpaten, die sich zu beiden Seiten, soweit sie schauen konnte, jenseits der rötlichen Dächer

Weitere Kostenlose Bücher