Hymne an Die Nacht
einzelner Ortschaften erhoben, glänzten in diesem Moment im matten Widerschein einer jäh zwischen den Wolken aufblitzenden späten Novembersonne, spukhaft fast und gleich wieder im Dunst verschwunden. Joanna hielt den Atem an. Dieser Anblick schmerzte fast in seiner unwirklichen Schönheit, doch da gab es noch etwas anderes.
Mit Clarice und Pepe war sie in Gegenden gereist, die andere junge Menschen vielleicht als aufregend und spannend erlebt hätten, doch sie hatte das nie so empfunden. Obwohl sie von Anfang an wusste, wie dankbar sie ihrem Stiefvater dafür sein musste, dass er sie und ihre Mutter damals bei sich in Marbella aufgenommen hatte, war dieses südliche Spanien nie ihr wirkliches Zuhause gewesen.
Erst hier, in diesem wunderbaren, wilden Land, spürte sie, dass sie angekommen war, bei sich, in der eigentlichen Heimat. Der Taxifahrer in Bukarest fiel ihr ein, der ehemalige katholische Priester, der sie und Tomas an ihrem Ankunftsabend zu jenem Restaurant gefahren hatte. »Junge Lady«, hatte er gesagt, »gehen Sie nach Siebenbürgen. Dort werden Sie vielleicht etwas finden, das Sie nie gesucht haben.«
Er hatte recht gehabt. Eine unbekannte Empfindung stieg in ihr hoch. War es ein starkes Glücksgefühl oder die Ahnung, dass noch etwas ganz anderes auf sie hier wartete? Etwas, das ihr Leben für immer verändern würde? Sie wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie verwirrt und berauscht war und dass sich dieser Moment schon jetzt auf ewig in ihre Erinnerung eingebrannt hatte.
Stanislaw wandte sich zu ihr um. Seine Augen leuchteten. »Du bist glücklich«, sagte er, »ich kann es sehen.«
Sie schmiegte den Kopf gegen seine Schulter, und sie verharrten so eine Weile, bis er sie sanft von sich schob. »Komm, lass uns zurückgehen. Ewa will uns um halb acht im Hotel treffen. Wir können wiederkommen, wenn wir wollen.«
Auf ihrem Weg nach unten kam Igor aus einem Gebüsch und blieb neben ihnen, bis sie den Abstieg geschafft hatten. Von den beiden Wächtern war nichts mehr zu sehen.
»Hat er etwa …?«, fragte Joanna mit erhobener Stimme.
Stanislaw legte den Finger an die Lippen. »Manchmal ist es besser, nicht alles zu wissen.
Zwölf
Bei der Rückkehr ins Hotel kam der Chef der Rezeption auf sie zu. »Sie werden in der Bar erwartet«, sagte er zu Stanislaw und sah ihn seltsam eindringlich an. »Eine Dame hat nach Ihnen gefragt.« Das Wort »Dame« kam mit einem leichten Zögern.
»Danke.«
Der Hotelangestellte entfernte sich und kehrte zu seinem Platz hinter dem Empfang zurück.
»Wo Ewa auftaucht, werden die Menschen unruhig«, kommentierte Stanislaw das Geschehen. Achselzuckend wandte er sich um. »Lass uns das alte Schlachtschiff begrüßen, wir zwei haben uns lange nicht mehr gesehen.«
Als Joanna hinter ihm die Bar betrat, blieb sie aus zwei Gründen verblüfft auf der Schwelle stehen. Der erste Grund hatte mit der Einrichtung des Raums zu tun. Während die Hotelhalle ein in Marmor erstarrter Alptraum war, den der Architekt für so etwas wie modernen Schick gehalten haben musste, schien in der Bar die Zeit stehengeblieben zu sein.
Sämtliche Sitzmöbel waren mit dunkelrotem Plüsch überzogen, und Repliken von alten, mit Messing verzierten Glasleuchten verbreiteten ein diffuses sanftes Licht. Vor dem dunklen, holzgeschnitzten Tresen standen mehrere Barhocker mit einer runden Sitzfläche aus abgewetztem Leder.
Joanna blinzelte. Auf den ersten Blick konnte sie nicht unterscheiden, ob das, was sie sah, eine alte, gewachsene Umgebung war oder eher eine rekonstruierte Theaterkulisse. Bis eine Stimme rief: »Hier bin ich«, und jemand im Hintergrund winkend den Arm hob. Das war dann der zweite Grund für ihr Erstaunen.
Natürlich hatte sie sich von Ewa ein Bild gemacht, dennoch übertraf der Mensch, dem sie sich jetzt gegenübersah, weit ihre Vorstellungen. Ewa war möglicherweise die hässlichste Person, der sie je begegnet war, und zugleich, abgesehen von Stanislaw, die eindrücklichste.
Die beiden alten Freunde umarmten einander, und Joanna hatte Gelegenheit, Ewa genauer zu betrachten. Allerdings nicht lange, denn der Moment der Rührung zwischen ihr und Stanislaw währte nur ein paar Sekunden. Danach wandte sich Ewa zu Joanna um und musterte sie gründlich.
»Du bist also die Tochter von Stanislaw, hm? Ich bin Ewa Lakatos. Willkommen in Transsylvanien, mein Kind. Ich sehe, dass es dir in unserem Land gefällt, ich sehe es in deinen Augen.«
Stanislaw machte eine auffordernde
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