Hymne an Die Nacht
aufstieß: »Das ist mein Arbeitszimmer, hier bewahre ich vieles von dem auf, was ich gesammelt habe.«
Zögernd trat sie ein. Eine unerwartet intime Atmosphäre empfing sie in diesem Raum, der weit mehr als ein Büro war, ein Ort, in dem nicht nur gearbeitet, sondern auch gelebt wurde.
»Sieh dich um«, forderte er sie auf, »es gibt hier ein paar Dinge, die dich interessieren könnten.«
Vadim nahm sie beim Arm und deutete auf Gemälde und Zeichnungen, die ihm offenbar besonders wichtig waren. Joanna konnte mit diesen Kunstwerken wenig anfangen, bis sie auf seinem Schreibtisch die Skulptur eines Totenkopfes entdeckte.
»Von wem stammt das?«
Er betrachtete sie forschend. »Du scheinst eine seltsame Vorliebe für das Morbide zu haben, und ich frage mich, woher das kommt. Ich habe dir hier einige der schönsten Exemplare aus der Zeit der klassischen Moderne gezeigt, und du interessierst dich vor allem für einen Totenkopf? Aber um deine Frage zu beantworten, dieses Objekt ist den berühmten Totenköpfen des britischen Künstlers Damien Hirst nachempfunden, und wenn du genau hinsiehst, entdeckst du die winzigen Schmetterlinge im Inneren. Ein Freund von mir hat das gemacht, ein hiesiger Bildhauer.«
Ohne auf den verborgenen Vorwurf einzugehen, fragte sie: »Darf ich?« Sie deutete auf das Objekt.
»Natürlich«, erwiderte er stirnrunzelnd.
Vorsichtig nahm sie das Gebilde in die Hände. Der Schädel war aus Glas, ebenso die filigranen, zartblau schimmernden Flügel der Schmetterlinge.
»Tod und Wiedergeburt«, murmelte sie. Rasch legte sie ihn an seinen Platz zurück. In dem Moment summte Vadims Handy.
»Das war Cornel«, sagte er, nachdem er die SMS gelesen hatte, »es ist alles für unseren Ausflug bereit. Wir können fahren.«
Vierundzwanzig
Je weiter sie in die Landschaft hinausfuhren, desto befreiter fühlte sich Vadim. Die Szene in seinem Arbeitszimmer hatte ihn seltsam berührt und wirkte noch in ihm nach. Joanna war zweifellos eine sehr ungewöhnliche junge Frau, die ihn zwar beeindruckte, zugleich aber verunsicherte. Er wusste nicht, was er von ihr halten sollte. Sie hatte so viele Facetten von sich offenbart, und nichts war gespielt gewesen, dafür hatte gerade er als Schauspieler ein untrügliches Gespür.
In seiner Umgebung gab es viele, die ihn umschmeichelten, sein Reichtum und sein Status als Filmstar wirkten wie ein Magnet auf jene, die davon profitieren wollten, darin gab er sich keinerlei Illusion hin. Dass er außerdem eine attraktive Erscheinung war, machte ihn für die zahllosen Frauen, mit denen er das Bett teilte, umso begehrenswerter. Mit Joanna war alles anders, bei ihr fand er etwas, das jenseits von Täuschung und Verstellung war.
»Wohin fahren wir, Vadim?«, fragte sie, während der Landcruiser über eine holperige Schotterpiste rumpelte, auf der sich noch keine geschlossene Schneedecke gebildet hatte. In ihrer Stimme hatte etwas mitgeschwungen, das er selbst schon lange nicht mehr kannte, eine Mischung aus Vorfreude und gespannter Neugier.
»Wir fahren nicht nach Brasov, sondern in die entgegen-gesetzte Richtung über den Kamm, obwohl man kaum etwas von der Landschaft erkennen kann, solange der Mond nicht über den Wipfeln steht.«
»Ist das in Richtung von Predeal? Wir sind auf dem Hinweg über diesen Pass gefahren.«
»Genau, dieser Ort ist die höchstgelegene Stadt Rumäniens. Wir kommen jetzt genau von der anderen Seite. Aber sieh mal aus dem Fenster, rechts von uns ist Poiana Brasovs Hausberg, der ›Postavarul‹, er ist immerhin fast zweitausend Meter hoch.«
Er deutete auf das Bergmassiv, dessen Konturen sich nur noch ganz schwach gegen den verdunkelten Himmel abhoben.
»Euer Hausberg mit seinen Ausläufern muss ein wunderbares Skigebiet sein«, sagte sie lebhaft, »mit den langen Pisten und den vielen Bergbahnen, und alles direkt vom Ort aus zugänglich.«
Er nickte verblüfft. Wie konnte sie das sehen? Es war doch schon ganz dunkel.
»Hast du darüber in einem Reiseführer gelesen?«
»Ja, das auch, aber ich sehe es.«
Abrupt wandte er ihr das Gesicht zu. »Du siehst es?«
»Nein«, ihre Stimme klang plötzlich kleinlaut, »ich meinte nur, ich ahne es irgendwie, ich stelle es mir eben so vor.«
Schweigend fuhren sie weiter, jeder in seine Gedanken versunken. Nach einer Weile streckte er den Arm aus, und sie legte ihre Hand in seine. »Möchtest du Musik hören?«, fragte er.
»Ja, sehr gern.«
Ohne lange zu überlegen, drückte er auf die Starttaste des
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