Hymne an Die Nacht
hatte.
»Wer bist du, Joanna?«
Sie zögerte nur einen Moment mit der Antwort.
»Ich bin die, die du kennst«, erwiderte sie und begegnete seinem forschenden Blick mit äußerlicher Gelassenheit.
Er lächelte dünn. »Aber ich kenne dich nicht wirklich, Joanna, das ist mir immer klarer geworden, vor allem seit letzter Nacht. Du scheinst allerlei Hokuspokus zu betreiben, Dinge, an die ich noch nie richtig geglaubt habe. Ich weiß, dass wir in Rumänien jede Menge sogenannter Hexen haben, aber du bist keine rumänische Zigeunerin, du bist die Tochter eines ungarischen Adligen, über den im Internet nur wenige Angaben zu finden sind. Und die sind wenig schmeichelhaft für ihn. Vielleicht ist er ein international gesuchter Krimineller …«
Er machte eine Pause und wartete. Joanna grub ihre Nägel in die Lehnen des gepolsterten Sessels, und da sie nichts sagte, fuhr er fort: »Andererseits steht fest, dass du von deinem spanischen Stiefvater, diesem Arzt, adoptiert wurdest, nachdem er deine englische Mutter geheiratet hatte. Das sind ziemlich verwirrende Fakten, findest du nicht? Und dann diese rührende Geschichte, wie du deinem leiblichen Vater ganz zufällig am Strand von Marbella begegnet bist, und von da an ist alles gut gewesen, obwohl er dich und deine Mutter damals einfach im Stich gelassen hat!«
Sie antwortete noch immer nicht, während sich in ihren Eingeweiden ein Brennen ausbreitete, gegen das sie nichts mehr vermochte.
»Was hat euch wirklich hierhergeführt, noch dazu in dieser gottverlassenen kalten Jahreszeit vor Beginn der eigentlichen Saison?«
Sie richtete sich in ihrem Sessel auf und sah Vadim direkt in die Augen, bis er den Blick abwandte.
Er stand auf, stieß den Sessel zurück und trat ans Fenster. Mit dem Rücken zu ihr blieb er dort stehen. »Ich frage dich ein letztes Mal, Joanna. Wer bist du?«
»Du wirst es mir ohnehin nicht glauben, Vadim, denn du glaubst anscheinend nur, was du sehen und begreifen kannst, obwohl du aus diesem Land stammst. Aber ich erzähle es dir jetzt. Ich habe eine englische Mutter, eine sterbliche Frau, die mich geboren hat.«
Vom Fenster kam ein Laut, der sich wie ein schwaches Ächzen anhörte.
Sie machte eine Pause und klammerte sich mit beiden Händen an ihrem Sessel fest, um das zunehmende Zittern in ihren Gliedern zu unterdrücken.
Mit tonloser Stimme fuhr sie fort: »Aber Stanislaw … mein leiblicher Vater … er ist ein Vampir. Ich bin ein Zwitter. Daher stammen meine übersinnlichen Fähigkeiten.«
In das tödliche Schweigen hinein, das ihren Worten folgte, flüsterte er nach einer Weile: »Das ist nicht wahr, sag mir, dass das nicht wahr ist.« Er fuhr herum und starrte sie an, als sehe er sie zum ersten Mal.
»Doch, Vadim, es ist wahr.« In ihrer Stimme schwang die Ruhe derer mit, die gerade dabei sind, alles zu verlieren.
Mit schwerem Schritt wankte er zum Schreibtisch und ließ sich in seinen Sessel fallen. Er konnte sie nicht mehr ansehen.
»Vadim …«
Er hob abwehrend die Hand.
»Ich bin doch trotzdem ein menschliches Wesen …, und eine Frau, die dich liebt«, sagte sie sehr leise. »Und ich weiß es ja auch erst seit kurzem, ich hatte keine Ahnung …«
Er hob den Blick. In seinen Augen spiegelte sich fassungsloses Entsetzen, und dann war da noch etwas, sie erkannte es sofort. Es war Furcht, Furcht vor dem unbegreiflichen Wesen, das er plötzlich in ihr sah und das für ihn nichts mehr mit der Joanna gemein hatte, die ihm zuvor so nahe gewesen war.
Wie in Zeitlupe bewegte sie ihre Glieder, bis sie es schaffte, aufzustehen. »Leb wohl, Vadim.« Ihre Stimme war nur noch ein gehauchtes Flüstern.
»Geh«, brach es aus ihm heraus, »geh endlich!«
Achtundzwanzig
Joanna packte die paar Sachen zusammen, die sie bei Vadim hatte, als es klopfte. Sie reagierte nicht und stopfte den Rest in ihre Reisetasche. Es klopfte erneut, die Tür wurde vorsichtig geöffnet, und Cornels Kopf erschien.
»Ihr Vater, Miss Joanna … ich wollte Ihnen nur sagen, dass der Graf draußen auf Sie wartet.«
Joanna warf sich die Tasche über die Schulter und stürmte an Cornel vorbei. Dann begann sie zu rennen. Sie rannte den langen Gang entlang und wollte nur noch weg von diesem Ort, sie war auf der Flucht vor einem Schmerz, der aus so ganz anderen Tiefen kam als all ihre nicht von dieser Welt stammenden Kräfte, und endlich wusste sie die Antwort auf das, was sie die ganze Zeit gequält hatte.
Sie gehörte nicht zu Stanislaws Welt, so nahe sie ihm
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