Hymne an Die Nacht
inzwischen innerlich war, sosehr sie ihn inzwischen liebte. Nichts von dem, was sein Erbe ihr mitgegeben hatte, würde sie in einem Moment wie diesem retten können, sie würde immer ein Geschöpf bleiben, dem alle menschlichen Prüfungen auferlegt werden konnten, unendliche Freuden und unendlicher Schmerz, so wie jetzt.
Stanislaw wartete auf sie am Fuß der steinernen Treppe. Sie war ihm unendlich dankbar, dass er da war, denn sie wusste, dass es ihn große Anstrengung kostete, im hellen Tageslicht unterwegs zu sein. Dennoch wich sie seinem forschenden Blick aus. Sie konnte jetzt keine Fragen beantworten. In ihrem Inneren war ein Meer von Verzweiflung, doch die erlösende Wirkung der Tränen wollte nicht kommen.
»Lass uns fahren«, murmelte sie.
Hinter einem der oberen Fenster bewegte sich eine Ge-stalt. Es war Vadim, der sich jetzt zurückzog. Joanna hatte sie nicht bemerkt, doch Stanislaw warf einen Blick nach oben. Er schloss die Autotüren, startete den Wagen und fuhr los.
»Ich habe inzwischen erfahren, dass Kyrill hier eingetroffen ist«, sagte er ohne Überleitung, »und jetzt geht es um deinen Schutz. Ich hätte dich nicht länger bei Vadim lassen können. Er weiß ja nicht, in welcher Gefahr du bist.«
Sie schwieg einen Moment und wunderte sich, wie wenig diese Nachricht sie berührte. »Nein, davon weiß er nichts.« Sie sah aus dem Fenster, als betrachte sie die schneebedeckten Waldspitzen. »Aber Vadim weiß jetzt, wer ich bin. Was ich bin.«
Stanislaw riss das Steuer herum und landete auf dem Seitenstreifen, wo der Geländewagen mit einem quietschenden Geräusch zum Stehen kam.
Er stellte den Motor ab und wandte sich Joanna zu. »Ich habe letzte Nacht gespürt, dass etwas geschehen ist, das dich in große Bedrängnis gebracht hat. Willst du es mir nicht erzählen?«
Endlich sprach sie. Als sie geendet hatte, blieb er eine ganze Weile still. Nur ein kaum wahrnehmbares Zucken seiner Gesichtsmuskeln verriet, was in ihm vorgehen mochte. Joanna spürte jetzt eine so tiefe Erschöpfung, dass sie nur noch ausruhen wollte.
»Bitte bring mich ins Hotel«, flüsterte sie, »ich möchte mich hinlegen und schlafen …« Und am liebsten nie mehr aufwachen, fügte sie in Gedanken hinzu.
Schweigend fuhren sie die Serpentinen hinunter, die sie inzwischen beide so gut kannten. Im Hotel stützte er sie auf dem Weg nach oben, bis sie vor ihrer Zimmertür standen. Sie lehnte den Kopf an ihn, und er zog sie an sich.
Als sie dicht an seine Schulter geschmiegt stand, kamen endlich die Tränen. Es war kein Sturzbach, nicht einmal ein Schluchzen. Sie weinte still und unaufhaltsam, bis er sich behutsam abwandte, ihren Zimmerschlüssel nahm und öffnete. Er führte sie zum Bett, zog ihr die Stiefel, die Jeans und den Pullover aus und half ihr, sich hinzulegen. Nachdem er die Decke über sie gebreitet hatte, zog er die Vorhänge zu, kehrte nochmals zu ihr zurück und betrachtete ihre bleichen Gesichtszüge. Durch einen Schleier von Tränen sah sie ihn an.
Er setzte sich auf die Bettkante. Sie wollte nach seiner Hand fassen, fühlte sich aber zu kraftlos dazu.
»Scht«, machte er, »du musst jetzt schlafen.« Zarter als ein Lufthauch strichen seine Finger über ihre schwer werdenden Lider, die sich langsam schlossen.
Lautlos verließ er den Raum.
*
An der Rezeption bat er darum, seine Tochter nicht zu stören, sie sei erkrankt.
Ob man einen Arzt holen solle, erkundigte sich die junge Frau ernsthaft besorgt.
Nein, wehrte Stanislaw ab, es handle sich wohl nur um eine Magenverstimmung, aber sie brauche jetzt Ruhe. Die Hotelangestellte nickte verständnisvoll.
Er fuhr wieder nach oben in sein Zimmer, wo er von Igor stürmisch begrüßt wurde, doch als der Wolfshund die Miene seines Herrn bemerkte, legte er sich still wieder hin, die spitzen Lauscher fragend aufgestellt. Stanislaw setzte sich zu seinem alten Gefährten auf den Boden, schlang die Arme um dessen zotteligen Kopf und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Igors Körper spannte sich, er sprang auf und begann ruhelos im Raum auf und ab zu laufen. »Komm«, sagte Stanislaw, »wir müssen hier raus.«
In dem Moment rief Daphne an, die wohl endlich Stanislaws Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter abgehört hatte.
Als er sich meldete, klang sie alarmiert. »Was ist los, mein Liebster? Da ist etwas in deiner Stimme … sag mir schnell, was passiert ist!«
Dankbar, dass es sie gab und er sich ihr anvertrauen konnte, erzählte er ihr alles, von Vadim, der Joanna von
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