Hymne an Die Nacht
meterweit vom Ziel entfernt ein. Der Wolf war natürlich verschwunden.«
Cornel schwieg und trank einen Schluck Wein. »Was hat Joanna getan? Hat sie Angst gehabt, ist sie in Panik geraten?«
»Nicht im Geringsten. Sie ist vollkommen ruhig geblieben und hat dem Wolf nur die ganze Zeit in die Augen gesehen, als wollte sie ihn hypnotisieren.« Vadim zündete sich eine neue Zigarette an. »Und im Bett ist diese Dreiundzwanzigjährige aus wohlbehütetem Elternhaus von einer Raffinesse, als sei sie bei den erfahrensten Huren in die Schule gegangen.«
Erschöpft lehnte er sich zurück.
»Vadim, ich habe dir schon von meinen Recherchen im Internet berichtet. Ich habe den Namen Lugosy gefunden und auch eine Joanna Bedford, die in Marbella wohnt, aber über den Grafen gibt es kaum Einträge. Außer einer sehr mysteriösen Geschichte, die sich vor nicht langer Zeit in Zürich ereignet hat.«
Rasch beschrieb Cornel die Vorgänge in Stanislaws Club und die erfolglosen Ermittlungen der Zürcher Polizei. »Plötzlich war der Graf spurlos verschwunden, als habe er sich in Luft aufgelöst. Und dann taucht er ausgerechnet hier wieder auf.«
»Wir werden dieses Geheimnis heute Nacht wohl nicht mehr ergründen«, stieß Vadim zwischen den Zähnen hervor, »aber morgen nehme ich mir die junge Dame mal richtig vor. Dann muss sie Farbe bekennen, und ich schwöre dir, sie wird es tun.«
Cornel räumte die Flasche und die Gläser weg und ging zur Tür. »Sei auf der Hut, Vadim. Gute Nacht.«
*
Joanna hatte lange nicht einschlafen können. Als sie am anderen Morgen aus dem Nebel schwerer Träume auftauchte und tastend die Hand nach Vadim ausstreckte, war sie allein und sein Kopfkissen unberührt. Sofort war sie hellwach.
Was war in der letzten Nacht nur in sie gefahren, wie hatte sie so sehr die Kontrolle über sich verlieren können? War es die wohlige Erschöpfung nach der Liebe gewesen, die sie jede Vorsicht hatte vergessen lassen? Oder war das, was von außen betrachtet als mutwilliger Leichtsinn gedeutet werden konnte, in Wahrheit etwas ganz anderes gewesen?
Denn längst fragte sie sich, wie Vadim reagieren würde, wenn er die Wahrheit erführe, wenn er wüsste, wer sie wirklich war. Was sie wirklich war. Sie hatte den Gedanken daran zwar immer wieder verdrängt, aber womöglich hatte etwas in ihr jetzt unbewusst darauf hingezielt, ihn mit genau dieser Wahrheit zu konfrontieren.
Eine eisige Hand griff nach ihrem Herzen, und kurz darauf perlte kalter Schweiß auf ihrer Stirn. Sie setzte sich auf die Bettkante und wartete, bis sich ihr Puls beruhigte. In dem Moment, in dem sie ins Bad gehen wollte, schwang die Tür auf. Vadim kam mit einem Tablett herein und stellte es auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster ab.
»Guten Morgen.« Er zog die Vorhänge auf und drehte sich zu ihr um.
»Guten Morgen, Vadim«, sagte sie zögernd. Sie sah ihm ins Gesicht, doch seine Miene war vollkommen ausdruckslos.
»Wenn du gefrühstückt hast und angezogen bist, will ich mit dir reden. Komm in mein Arbeitszimmer, ich warte dort auf dich.«
Joanna nickte nur. Sein schroffer Ton überraschte sie nicht, nachdem er nachts nicht zu ihr gekommen war.
Sobald sie wieder allein war, trank sie einen Schluck Tee und biss mutlos in ein Croissant. Dann duschte sie rasch, fuhr sich mit der Bürste durchs Haar, und nachdem sie sich kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt, die Zähne geputzt und etwas Make-up aufgetragen hatte, sah sie sich im Spiegel an. Sie war noch immer dieselbe, doch der Mann, zu dem sie etwas hinzog, das sich unerwartet so sehr wie Liebe anfühlte, behandelte sie jetzt wie eine Fremde.
Sie zog sich an, ging zur Tür und öffnete sie. Auf der Schwelle wandte sie sich noch einmal um. Ihre Augen wanderten durch den Raum und blieben bei dem überbreiten Bett haften. Dann schloss sie leise die Tür hinter sich.
Der Weg zu seinem Büro erschien ihr länger als sonst, zugleich widerstand sie mit Mühe dem Impuls zu flüchten. Endlich stand sie vor der Tür, die nur angelehnt war.
»Komm rein«, hörte sie seine Stimme. Er saß an seinem Schreibtisch und sah ihr entgegen, ohne aufzustehen.
»Setz dich«, er deutete auf den Besuchersessel ihm gegenüber. »Möchtest du etwas trinken? Einen Espresso vielleicht?«
»Nein, danke, Vadim.« Schweigend sah sie zu, wie er nach dem Zigarettenpäckchen in seiner Tasche fischte. Er rauchte und betrachtete sie nachdenklich. Und dann kam wie ein Schuss aus der Hüfte die Frage, die sie so sehr gefürchtet
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