Hymne an Die Nacht
Die Begegnung mit Vadim gehörte dazu.
Stanislaw konnte verstehen, wie sehr sie sich von diesem irrlichternden Mann angezogen fühlte. Er rührte eine Seite in ihr an, die bisher im Verborgenen geblieben war und derer sie sich in ihrem behüteten Umfeld in Spanien bisher nicht wirklich hatte bewusst werden können. Sie würde die dunkle Macht des Eros entdecken, und das würde sie durchrütteln, aber als Tochter eines Vampirs war sie dem gewachsen.
Sorgen machte ihm eher die andere Seite von Joanna, die er von Anfang an bei ihr wahrgenommen hatte, ihr unbeirrbarer Drang, zu heilen, zu retten und jede Kreatur von ihrem Übel zu erlösen, ob Pflanze, Tier oder Mensch. Erst recht, wenn es sich um einen Mann handelte, in den sie sich ernsthaft verliebt hatte. Nur an der Stelle war sie wirklich verwundbar.
Langsam kehrte er zum Hotel zurück. Bis zu Ewas Eintreffen hatte er noch Zeit, und er ging in sein Zimmer hinauf, um Daphne anzurufen. Wenn sie jetzt doch nur bei ihm sein könnte! Er hinterließ ihr eine sehnsüchtige Nachricht auf dem Anrufbeantworter.
Ewas Auftritt war ungewohnt dezent, als sie ihn in der Bar begrüßte. Kein lautes Rufen, und sogar ihre Kleidung war weniger auffällig als beim letzten Mal. Stanislaw schloss daraus, dass sie sich Sorgen machte. Sobald sie an ihrem Tisch in einer verschwiegenen Ecke saßen und Getränke bestellt hatten, sagte sie übergangslos: »Kyrill ist hier.«
Stanislaw schwieg einen Moment. »Seit wann?«, fragte er schließlich.
»Seit gestern Abend. Und das ist noch nicht alles.«
Er musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.
Ewa nahm einen tiefen Schluck aus ihrem Weinglas, bevor sie antwortete: »Er hat Leute hier, die ihm helfen.«
»Was für Leute?« Stanislaw atmete tief aus. »Solche von meiner Art?«
»Nein, es sind ganz gewöhnliche Menschen, die in Kyrills Auftrag bei einer internationalen Detektei alles recherchiert haben, was er wissen wollte.«
Sie betrachtete ihn durch schwere, halbgeschlossene Lider. »Frag mich nicht, woher ich das habe. Mein Netzwerk funktioniert. Hier bleibt kaum etwas verborgen, wenn man die richtigen Kontakte pflegt.«
Stanislaw zog das Fläschchen mit der dunkelroten Flüssigkeit hervor und goss die Hälfte in sein Weinglas. Nachdem er ausgiebig davon getrunken hatte, lehnte er sich zurück und betrachtete Ewa schweigend.
»Er wird nicht versuchen, dich offen anzugreifen, er weiß, dass er dir im Zweikampf unterlegen wäre. Aber er will Joanna.«
»Dann weiß er bestimmt auch, dass sie zurzeit bei Vadim wohnt«, sagte er leise, »und das bedeutet, dass sie schutzlos ist.«
Sie schwieg einen Moment. »Was ist mit diesem Vadim? Was läuft da zwischen den beiden?«
»Ich vermute, dass Joanna zum ersten Mal in ihrem Leben eine richtige Liebe erlebt«, erwiderte er seufzend, »mit allem, was dazugehört.«
Sie wedelte mit der freien Hand, während sie mit der anderen das Weinglas an ihren stark geschminkten Mund führte. »Mag ja sein«, sagte sie ungeduldig, »aber hat dieser Kerl überhaupt eine Ahnung, mit wem er es zu tun hat? Wird er Joanna beschützen können?«
»Nein, er weiß nichts. Außerdem glaubt ausgerechnet dieser Mann, der gerade einen Vampirfilm abgedreht hat, nicht im Geringsten an die Existenz unserer Spezies, und das, obwohl er hier aufgewachsen ist.«
Ewa stieß etwas Unverständliches hervor, das sich wie ein Fluch anhörte. »Dann wird er sie auch nicht beschützen können«, erklärte sie düster. »Und ob er sie wirklich liebt, werden wir erst erfahren, wenn er die Wahrheit kennt, und die wird erst mal ein gewaltiger Schock für ihn sein.«
Die sichelförmigen Linien um Stanislaws Mund traten schärfer hervor.
»Es gibt nur eine Möglichkeit«, sagte Ewa gebieterisch, »du musst sie wieder zu dir holen, nur bei dir ist sie in Sicherheit.«
»Und wenn sie nicht will?«
»Dann musst du sie zwingen. Auch wenn sie dich im Moment dafür hasst. Wir dürfen dieses Risiko nicht eingehen.«
»Wir?«, fragte er verblüfft. »Dann sind wir also Verbündete?«
»Ja, das sind wir. Und denk daran: dein Gegner ist zwar nicht so mächtig wie du, aber seine Stärke besteht zurzeit in etwas anderem. Er ist nicht mehr er selbst, er wird von widersprüchlichsten Gefühlen beherrscht, er begehrt Joanna, im Wissen, dass sie ihn verabscheut, begehrt er umso mehr ihr Blut, damit sie ihm ein für alle Mal gehört. Zugleich weiß er, dass es keine wirkungsvollere Rache an dir gäbe, als dir das Liebste, das du hast,
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