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Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)

Hymne der demokratischen Jugend (German Edition)

Titel: Hymne der demokratischen Jugend (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serhij Zhadan
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dran zu denken, aus Versehen griff sie sich seine Kleider, trank den Rest Wodka vom Vorabend aus, der auf dem Nachttisch stand, löschte ihre Kippe in seinem Tee, kurz gesagt, er war spät dran, und sie bewegte sich nicht. Hör mal, sagte sie, als sie ihm seinen Schuh reichte, in den sie vorher Wodka verschüttet hatte, was quälst du dich denn, ich zieh einfach zu dir, und alles wird gut. Glaubst du? – fragte er zweifelnd, − also in Ordnung, aber jetzt verzieh dich, ich bin spät dran. Beleidigt warf sie den Schuh nachihm. Am nächsten Morgen kam sie zurück, schleppte einen riesengroßen Koffer, ich habe nur das Wichtigste mitgebracht, – erklärte sie ungerührt, – man hätte mich damit fast nicht in die Straßenbahn gelassen, kannst du dir das vorstellen? Wo kann ich meine Bücher hinstellen? An Büchern hatte sie Band drei eines Konversationslexikons mitgebracht, Buchstabe G, die anderen hast du schon gelesen oder was? fragte Kaganowitsch, ich interessiere mich für Genetik, antwortete sie und schob Band drei unters Kopfkissen. Aber sie war gar nicht richtig zu ihm gezogen, blieb wochenlang verschollen, tauchte für einen Tag, vielmehr eine Nacht auf und verschwand wieder. Ihre Sachen lagen überall im Zimmer verstreut. Kaganowitsch konnte sich lange nicht daran gewöhnen, versuchte aufzuräumen, den Kram auf einen Haufen zusammenzulegen, gerade da aber tauchte sie jedesmal auf und zerrte Schachteln und Tüten, Päckchen und Alben aus dem Koffer, – was fällt dir ein, meine Sachen anzurühren, – rief sie beleidigt, – untersteh dich, irgendwas anzurühren oder deine Nase in meinen Koffer zu stecken, Perversling, sie war das ideale Kleptomanie-Opfer, denn mit ihrem Kram kam sie offensichtlich nicht zurecht, ließ dauernd was in Bars und Kantinen liegen, vergaß ihre Sachen auf der Post und in den Straßenbahnen, mit denen sie angefahren kam. Kaganowitsch wußte nicht einmal genau, wo sie wohnte, hatte aber eine vage Vorstellung, weil sie doch mit der Straßenbahn fuhr, er hätte ihre Fahrtroute nachverfolgen können anhand der in den Waggons und an den Haltestellen liegengelassenen Regenschirme und Notizbücher, Bleistifte und Filzschreiber und anderen Dingen des täglichen Gebrauchs; auf dieser Spur hätte man ihre Wohnung ausfindig machen können,übersät mit einer noch größeren Anzahl von Kleidern und Büchern, gestrickten Mützen und Handschuhen, sie besaß unheimlich viel Kram, vielleicht wollte sie darum nicht aus ihrer verfluchten Wohnung ausziehen, über die sie schlimme Geschichten erzählte, von Straßenbahnen, Nachbarn, Sachen, die verschwinden, mit Entsetzen dachte sie daran, was es bedeuten würde, das alles zusammenzusuchen, in Koffer zu packen, zu schleppen, Kaganowitsch dachte mit nicht geringerem Entsetzen daran, kurz gesagt – das Thema jagte ihnen Angst ein, also versuchten sie, nicht davon zu reden. Sie versuchten überhaupt, nicht zu reden: wenn sich zwei Leute, wie diese beiden, viel zu sagen haben, dann schweigen sie normalerweise. Denn der Versuch zu reden gerät leicht zur Autopsie, und anschließend muß man die Leiche irgendwie wegschaffen und verstecken. Außerdem muß man, um normal zu kommunizieren, nicht unbedingt reden, man kann auch einfach nur aufmerksam zuhören. In ihrem Fall brauchte man nicht einmal Fragen zu stellen, es reichte, sie sich anzuschauen, denn sie benahm sich wie eine Pflanze, wie Gras vielleicht, wenn man sich Gras mit so einer Vergangenheit vorstellen kann. Also wenn sie telefonierte und die Verbindung plötzlich abbrach, dann reagierte sie, als ob die Sauerstoffzufuhr unterbrochen wäre und sie keine Ahnung hätte, wie das passieren konnte und womit sie ihre Lungen jetzt füllen sollte. Es reichte, sie einfach nur zu beobachten, ihre Gewohnheiten, ihre wechselnden Launen, um so mehr, als die dauernd wechselten, als ob sie überhaupt keine Laune hätte, auch das konnte man verstehen – gefallener oder gestiegener Luftdruck, mangelnde Luftfeuchtigkeit, was für eine Laune denn, wenn dir morgens die Sauerstoffzufuhr abgestellt wird. Diekomische Beziehung zweier Downies, die sich einfach nicht verstehen können, weil sie nicht nur Downies sind, sondern auch noch verschiedene Sprachen sprechen, da kann man sich einfach nicht verstehen, die Beziehung besteht aus dauerndem Verschweigen, aus Stille, aus gleichmäßigem, stummem Atmen, das manchmal, gegen Morgen, endlich so still wird, daß das Herz gerade eben nicht aufhört zu schlagen. Am

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