Hyperspace: eine Reise durch den Hyperraum und die zehnte Dimension ; [Einsteins Rache]
Hafenbüro von Madras. Es war eine untergeordnete Tätigkeit, die entsprechend bezahlt wurde – zwanzig Pfund pro Jahr –, aber sie ermöglichte Ramanujan, wie einst Einstein am Schweizer Patentamt, in der Freizeit seinen Träumen nachzuhängen. Die Ergebnisse dieser »Träume« schickte Ramanujan per Post an drei bekannte englische Mathematiker, in der Hoffnung, auf diese Weise in einen mathematischen Gedankenaustausch eintreten zu können. Zwei dieser Mathematiker warfen den Brief eines unbekannten indischen Büroangestellten ohne Schulund Universitätsbildung einfach in den Papierkorb. Der dritte war der brillante Cambridger Mathematiker Godfrey H. Hardy, der in England so berühmt war, daß er ständig verrückte Briefe bekam und auch diesem Schreiben zunächst wenig Aufmerksamkeit schenkte. Auf den dicht bekritzelten Seiten bemerkte er viele mathematische Lehrsätze, die seit langem bekannt waren. So hielt er das Ganze für ein offenkundiges Plagiat und warf es ebenfalls fort. Doch irgend etwas paßte nicht ins Bild. Hardy wurde ein merkwürdiges Gefühl nicht los, und der seltsame Brief ging ihm hartnäckig im Kopf herum.
Beim Abendessen am gleichen Tage, dem 16. Januar 1913, erörterten Hardy und sein Kollege John Littlewood den bizarren Brief und beschlossen, ihn eines zweiten Blickes zu würdigen. Eher harmlos begann er mit den Worten: »Ich möchte Ihnen mitteilen, daß ich Angestellter in der Buchhaltung des Hafenbüros von Madras bin und ein Gehalt von nur zwanzig Pfund pro Jahr beziehe.« Doch der Brief dieses armen Angestellten aus Madras enthielt Lehrsätze, die den westlichen Mathematikern völlig unbekannt waren. Insgesamt waren dort 120 solche Lehrsätze versammelt. Hardy war wie vor den Kopf geschlagen. Der Beweis einiger dieser Sätze habe ihn »völlig überfordert«. Er berichtet: »Dergleichen hatte ich noch nie zuvor gesehen. Ein einziger Blick genügte, um zu erkennen, daß sie aus der Feder eines Mathematikers von höchstem Range stammen mußten.« 16
Littlewood und Hardy gelangten zur gleichen, erstaunlichen Schlußfolgerung: Ganz offenkundig war dies das Werk eines Genies, das einhundert Jahre europäischer Mathematik wiedererfunden hatte. »Er war mit einem unglaublichen Handikap angetreten, dieser arme und isolierte Hindu, und hatte seine Verstandeskräfte gegen die geballte Intelligenz Europas aufgeboten«, schrieb Hardy. 17
Unter vielen Schwierigkeiten sorgte Hardy dafür, daß Ramanujan 1914 nach Cambridge kommen konnte. Zum erstenmal konnte dieser jetzt einen regelmäßigen Gedankenaustausch mit Gleichgesinnten – das heißt der mathematischen Gemeinschaft Europas – pflegen. Und dann begann eine fieberhafte Tätigkeit: drei kurze, intensive Jahre der Zusammenarbeit mit Hardy am Trinity College in Cambridge.
Später versuchte Hardy, Ramanujans mathematische Fähigkeiten zu bewerten. David Hubert, den man allgemein für einen der größten westlichen Mathematiker des 19. Jahrhunderts hielt, gab er eine 80, Ramanujan eine 100. (Sich selbst stufte Hardy auf 25 ein.)
Leider zeigten sich weder Hardy noch Ramanujan an der Psychologie oder dem Denkprozeß interessiert, dem Hardys Schützling seine erstaunlichen Lehrsätze verdankte, auch nicht an seinen »Träumen«, die ihm Einfälle in solcher Fülle schenkten. Dazu Hardy: »Es schien mir lächerlich, ihn zu fragen, wie er auf diesen oder jenen bekannten Lehrsatz gekommen war, wo er mir doch fast jeden Tag ein halbes Dutzend neuer zeigte.« 18 Anschaulich beschreibt Hardy seine Erlebnisse:
Einmal besuchte ich ihn, als er krank in Putney lag. Ich war mit einem Taxi gekommen, das die Nummer 1729 trug, und meinte, das scheine doch eine ziemlich langweilige Zahl zu sein, was hoffentlich kein schlechtes Omen sei. ›Nein‹, erwiderte er, ›das ist eine sehr interessante Zahl, denn sie ist die kleinste Zahl, die sich auf zwei verschiedene Weisen als Summe zweier Kubikzahlen ausdrücken läßt.« 19
(Sie ist sowohl die Summe von 1 x 1 x 1 und 12 x 12 x 12 als auch die Summe von 9 x 9 x 9 und 10 x 10 x 10.) Augenblicklich konnte er komplexe Lehrsätze der Arithmetik entwickeln, für deren Beweis man normalerweise einen modernen Computer braucht.
Die Engpässe der unter dem Krieg leidenden englischen Wirtschaft hinderten den stets kränkelnden Ramanujan daran, seine strenge vegetarische Diät fortzusetzen, und so folgte ein Sanatoriumsaufenthalt dem anderen. Nach dreijähriger Zusammenarbeit mit
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