Hypnose
damals bei dem Besuch in der Psychiatrie zu keinem Zeitpunkt Papa zu ihrem Vater gesagt hatte. Wer war diese Person, die da aus ihr sprach?
»Magst du mir sagen, wie du heißt?«
»Papa sagt Evi zu mir.«
Evelyn hatte sich in sich selbst zurückgezogen, denn in diesem Augenblick war sie wieder ein Kind. Also musste Inka sich auf dieses Kind einlassen, wenn sie irgendetwas erfahren wollte. Ihr kam eine Idee.
»Evi, hast du vielleicht Lust, mit mir Fernsehen zu schauen? Ich verrate nachher auch niemandem, dass wir das heimlich gemacht haben.«
»Au ja, gern!«
Inka fühlte sich wie elektrisiert. Es kribbelte bis hinein in ihr Gehirn, so sehr musste sie sich konzentrieren, die Rolle ihres Therapeuten bei der letzten Sitzung nachzuahmen.
»Gut, dann steh jetzt vom Kachelofen auf und setz dich vor den Fernseher. Du siehst nur deinen Hinterkopf, und meine Hand liegt auf deiner Schulter. In dem Fernseher ist noch ein anderer Fernseher, darin noch einer, ganz viele, mindestens zehn Stück. Kannst du das sehen?«
»Ja, das ist cool!«, sagte Evelyn mit einer Mädchenstimme, die jetzt nach einem Teenager klang.
»Das Bild in dem kleinsten Fernseher ist schwarz-weiß, leicht unscharf. Aber wenn du erzählst, werden die Umrisse deutlicher, und Farben kommen hinzu.«
»Dann erzähle ich dir von dem Tag, an dem ich verschwinden musste«, sagte Evelyn.
»Was ist an dem Tag passiert? Warum musstest du verschwinden?«
»Die Sonne scheint, es ist August. Wir grillen mit meinen Freundinnen Würstchen im Garten, ich feiere meinen 14. Geburtstag … Wow«, unterbrach sie sich selbst, »das ist ja abgefahren: Die Bilder im Fernseher werden immer farbiger!«
»Erzähl mir weiter, dann bewegen sie sich auch wieder.«
»Mama sitzt mit dickem Bauch im Schatten auf der Terrasse, sie hat ihre Füße hochgelegt, weil sie Schmerzen in den Beinen hat. Und schlimme Kopfschmerzen hat sie auch. Den ganzen Tag hat sie im Bett gelegen, aber jetzt will sie wenigstens bei uns sitzen, und sie sagt mir, ich solle mir keine Sorgen um sie machen und meinen Geburtstag genießen. Ich bitte sie, kurz aufzustehen, damit alle meine Freundinnen sehen können, wie groß der Bauch schon ist. Das Baby kann jeden Moment kommen. Mama steht auf, lächelt und dann fällt sie einfach um. Sie ist bewusstlos!« Evelyn schluchzte aufgebracht auf. Dann redete sie weiter.
»Papa ruft den Notarzt, und man bringt sie ins Krankenhaus. Am Abend kommt er alleine nach Hause. Ohne Mama und ohne einen kleinen Bruder. Papa sagt nicht viel. Ein paar Tage später habe ich verstanden, dass Mama nie mehr zurückkommt. Annabel ist erst vier Jahre alt und begreift das Ganze noch nicht so richtig, aber ich erfahre, dass meine Mutter an einer Schwangerschaftsvergiftung gestorben ist. Für mich stand von dem Tag an fest, dass ich wie Papa später Medizin studieren will. Ich möchte Frauenärztin werden, um für andere Frauen da zu sein, wenn ich schon meiner Mutter nicht helfen konnte. Es ist der Tag, an dem ich, Evi, verschwinden musste, um für Evelyn Platz zu machen …« Sie machte eine Pause.
Inka hoffte inständig, dass jedes ihrer Worte sie näher zu Jonas führte. »Und was geschah dann?«, fragte sie behutsam.
»Es war der unsinnige und irgendwie auch kindische Versuch«, sagte Evelyn nun mit der Stimme einer Erwachsenen, »meine Mutter wieder lebendig zu machen. Oder mich wenigstens von meinen Schuldgefühlen zu befreien, indem ich unzählige andere Menschenleben rettete. Nichts davon funktionierte. Nach sieben Jahren als Gynäkologin an der Klinik starb die erste Mutter unter meinen Händen – das Baby konnte ich retten. Ich begriff, ganz gleich, wie perfekt ich arbeitete – auch meine Hände würden den Tod nicht verhindern können.«
Evelyn hörte auf zu erzählen. Wieder erkannte Inka an Evelyns raschen Augenbewegungen, dass sie nach etwas suchte.
»Ich bin da«, sagte Inka, »du bist nicht allein, und ich höre dir genau zu. Auch wenn ich schweige, kannst du dich darauf verlassen, dass ich hier bin.«
Evelyn wusste nicht, mit wem sie es zu tun hatte. Was sie suchte, war jemand, der ihr zuhörte. Jemanden, dem sie sich im wahrsten Sinne des Wortes blind anvertrauen konnte, so wie sie das noch bei keinem Gegenüber ohne Trance gekonnt hatte. Allein deshalb war Inka die Hypnose gelungen, weil es Evelyns Unterbewusstsein so wollte. Andi war viel zu skeptisch gewesen, sein Kopf nicht bereit für eine Trance – damit war er für sie als Anfängerin eine viel zu
Weitere Kostenlose Bücher