Hypnose
sich der Umstand, dass sich ihre Kollegin kurz nach Beginn der Nachtschicht mit üblen Dickdarmkrämpfen vom Dienst abgemeldet hatte und nach Hause gefahren war. Die Stationsleitung konnte bei einer so plötzlichen Krankmeldung nicht so schnell für Ersatz sorgen, denn es herrschte Personalknappheit, und so fand sich Schwester Marianne zu später Stunde allein auf der Station wieder.
»Schön, dass Sie kommen, mein Engelchen«, begrüßte er sie. »Ich möchte mich gerne von Ihnen verabschieden. Ich gehe nach Hause.«
»Herr Brunner«, sagte sie und ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken, »das ist aber nett, dass Sie mir noch auf Wiedersehen sagen wollen. Aber es ist schon dunkel draußen, und wir hatten gar nicht mehr die Gelegenheit, uns zu unterhalten. Vielleicht setzen wir uns noch ein bisschen und reden miteinander. Und morgen früh sage ich dem behandelnden Arzt, dass Sie gerne gehen möchten.«
»Tut mir leid, Schwester Marianne, ich möchte jetzt gehen. Auf Wiedersehen.« Brunner machte einen Schritt auf sie zu und hielt ihr die Hand zum Abschied entgegen. Reflexartig reichte ihm Marianne ihre Hand. Sie folgte den psychologischen Gesetzen erlernter Verhaltensweisen.
Was jetzt passierte, geschah in Sekundenbruchteilen. Anstatt einzuschlagen, zog er seine Hand blitzschnell zurück und formte sie zu einer Schale. Einen Moment lang war Schwester Marianne irritiert, und diesen Moment nutzte Brunner, um in ihr Bewusstsein vorzudringen. Mit der Methode des hypnotischen Handschlags nach Milton Erickson gelang ihm diese Schnellhypnose. Er ergriff ihre ausgestreckte Hand und führte sie ihr vor Augen. »Schau auf deine Hand, und jetzt schlaf, schlaf tief und fest«, befahl er ihr. »Du schläfst tief und fest, dein Atem ist ruhig und regelmäßig, und du genießt die Entspannung während der Arbeitszeit. Du legst dich hier in mein Bett. Du hast dir Entspannung verdient, nachdem du heute Nacht alleine die Verantwortung für alle Patienten auf der Station hast. Deine Kollegin musste ich mit Natriumpicosulfat arbeitsunfähig machen. Ein geradezu poetischer Name für die süßlich schmeckenden Abführtropfen, die ich ihr in Überdosis in den Kaffee geschüttet habe, als sie sich zu Beginn ihrer Schicht ihrer Angewohnheit folgend mit ihrem Kaffee ein paar Minuten zu mir ins Zimmer setzte, weil ich mich wieder so schrecklich einsam fühlte. Meine Erfindung des Liliputaners im Kleiderschrank war schlicht und ergreifend genial, das hat mich in meiner Rolle erst so richtig glaubhaft gemacht. Ich bat deine Kollegin wie so oft, nach ihm zu sehen – und schwups, war das Mittel in ihrem Kaffee. Ihr Fehler, die Tasse so unbeaufsichtigt rumstehen zu lassen. Soll man unter uns Irren nicht machen – goldene Regel. Aber von einem bemitleidenswerten Alten befürchtet man ja keine krummen Dinger …«
Brunner holte einen Knebel unter seinem Kopfkissen hervor, den er aus dem Bezug gerissen hatte, drehte ihn eng und zwang ihn ihr in den Mund. Hinter ihrem Kopf knüpfte er einen harten Knoten. »Es stört dich auch gar nicht, dass du dich nicht äußern kannst, der Knebel in deinem Mund fühlt sich angenehm weich an, wie wenn er dorthin gehört. Wir wollen uns jetzt auf einen gemeinsamen Spaziergang begeben, und du erzählst mir etwas über die Landschaft, die du siehst. Berge, Täler, Wüsten, Wälder – geh dorthin, wo es dir am besten gefällt, Engelchen.«
Brunner verließ für einen Moment sein Zimmer, sah rechts und links den Gang entlang, auf dem alles ruhig war. Ein paar Schritte entfernt stand ein zweites Bett, das mit Lederschlaufen und Schnallen ausgestattet und für Patienten vorgesehen war, die ruhiggestellt werden mussten.
»Es hat sich gelohnt, den Irren zu spielen«, murmelte er vor sich hin, als er die Bremsen des Bettes löste und es ins Zimmer schob. »Ich habe die Rolle perfekt gespielt, wie in einem inszenierten Theaterstück, und es hat mir Spaß gemacht. Nicht nur meine Töchter und die Schwestern hier, sogar der Chefarzt ist darauf hereingefallen …« Er bettete Schwester Marianne um und fixierte ihr Schultern, Arme und Beine. »Im Leben läuft nicht alles nach Drehplan, mein Engelchen. Aber wir müssen uns mit neuen Situationen zurechtfinden … Auch ich musste einen anderen Lebensplan schmieden, nachdem mein Schwiegersohn Walter diesen leidigen Fehler in der Urkunde entdeckt hatte. Jetzt geht es konsequent weiter in der Umsetzung meines Racheplans.«
Brunner legte sämtliche Schlaufen und Gurte an
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