Iacobus
»Später dann, als ich schon älter war, bin ich gemeinsam mit anderen Kindern, die ebenfalls in der Festung lebten, wieder dort hinuntergegangen, natürlich heimlich. Die Tunnel sind größtenteils verschüttet. Vor allem in den Gängen, die unter dem Fluß durchführten, sind die Wände eingestürzt. Aber der Teil, der das jüdische Viertel mit der Festung verbindet, ist noch in gutem Zustand, denn die Templer stützten die Gewölbe ab und verstrebten sie. Auf alle Fälle muß man diese Unterwelt aber gut kennen; wenn man sich dort unten nicht auskennt, kann man vielleicht einen Eingang finden, auch wenn es schwierig ist, aber keinesfalls kommt man wieder heraus.«
»Und Ihr benutzt diese Gänge, um zu Evrard zu gelangen.«
Sara lächelte wortlos.
»Führt mich zu ihm«, bat ich sie inständig. »Führt mich zu Eurem Freund.«
»Warum?«
»Aus verschiedenen Gründen. Erstens bin ich Arzt und könnte, wenn ihn schon nicht heilen, ihm doch zumindest etwas Erleichterung verschaffen. Zweitens, weil Evrard mich kennt; und drittens, weil er meine letzte Hoffnung ist, die Beweise zu sammeln, die ich brauche, um nach Hause zurückkehren zu können. Ich kann Euch dafür nicht entlohnen; ich habe Euch schon mein ganzes Geld gegeben. Aber wenn Ihr Euren Freund wirklich schätzt, werdet Ihr mich zu ihm bringen.«
Die Zauberin sah mich eine ganze Weile aufmerksam an, ohne mit der Wimper zu zucken oder ihren Blick abzuwenden. Sie war eine Frau von hohem Geist und unlenkbarem Wesen, und vermutlich wog sie gerade das Für und Wider ab, das mein Besuch bei ihrem geschätzten kranken Freund Evrard mit sich bringen konnte. Schließlich faßte sie den umsichtigsten Entschluß.
»Ich kann Euch nichts versprechen«, erklärte sie. »Aber kommt morgen zur selben Stunde wieder hierher, dann kann ich Euch mitteilen, was Evrard beschlossen hat. Heute nacht werde ich ihn fragen.«
»Nennt ihm meinen Namen, sagt ihm, daß wir uns vor fünfzehn Jahren im Schloß der Mendozas kennenlernten. Sagt ihm das, bitte. Er wird sich an mich erinnern.«
»Morgen, Sire Galcerán, morgen um dieselbe Stunde.«
Evrard willigte in die Unterredung ein, indes entbehrte solche Ehre nicht der Gefahren und Schwierigkeiten. Der alte Templer sei sehr krank, warnte mich Sara, er befinde sich in einem vollkommen verwahrlosten Zustand. Ich sollte mich nicht durch den Schmutz und den unerträglichen Gestank beeindrucken lassen, der von den blutigen Exkrementen und Evrards Geschwüren herrühre. Um die Entzündung der schmerzhaften Beulen zu hemmen, hatte Sara auf Wundverbände zurückgegriffen, die sie auf der Basis von Wachsen, Ölen, Schmalz, Gummiharzen und Salzen hergestellt hatte, die zwar sehr wirksam waren, um jegliche Art von Abszessen zum Abklingen zu bringen, bei Evrards Krankheit allerdings überhaupt nichts nützten. Daneben gab sie ihm Absude von Schlafmohn zu trinken, um seine unerträglichen Schmerzen zu lindern, aber auch sie zeigten keine Wirkung. Evrard verendete in seinem Gefängnis wie ein räudiger Hund, und es gab nichts, was ihm helfen könnte, ruhig zu sterben.
All dies erzählte sie mir, während sie einen Beutel mit allem Nötigen packte, um in die Gänge hinabzusteigen: Fackeln, Phosphor, Wolle, ein wenig Kalk und einen todbringenden Silberdolch mit wunderschön gearbeiteter Klinge, auf der hebräische Schriftzeichen standen, die ich nicht rechtzeitig entziffern konnte; sicherlich war es das Stilett, das sie bei ihren Zauberritualen verwendete. Zwar sei sie bei ihren nächtlichen Gängen bisher noch nie auf jemanden gestoßen, gestand sie mir, doch müsse man vorsichtshalber gegen die Festungswachen gerüstet sein.
Als Sara sich den Beutel über die Schulter hängte, mußte ich Jonas die schlechte Nachricht verkünden, daß er uns nicht begleiten könne. Im ersten Moment war er einfach sprachlos, als ob er das Gesagte nicht richtig verstanden hätte; dann jedoch packte ihn regelrecht die Wut:
»Ihr dringt in eine Festung der Tempelherren ein und nehmt mich nicht mit! Das ist nicht zu fassen! Ich habe Euch zu allen Euren Unterredungen begleitet, und nun laßt Ihr mich im Haus einer Zauberin zurück mit einer verrückten Krähe als einziger Gesellschaft!« Er stampfte heftig auf den Boden. »Nein, nein und nochmals nein! Auch ich gehe mit, egal, was Ihr sagt!«
»Dieses Mal werde ich meine Meinung nicht ändern, Jonas. Deshalb setz dich bequem hin oder warte in der Herberge auf unsere Rückkehr. Nutze die Zeit, um deine Kenntnisse
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