Iacobus
zwölf Halbkreisen mit den Namen der Winde umgeben war: Afrikos, Boreas, Euros, Rochos, Zephyros … Im Inneren des Kreises war die Erde in Form eines T mit den drei Kontinenten Asien, Europa und Afrika dargestellt, an dessen Schnittstellen Rom, Jerusalem und Santiago – die drei Achsen der Welt, die Axi Mundi – und im Norden der Garten Eden hervorstachen. Jenes ungenaue Imago Mundi spiegelte daneben die himmlischen Konstellationen über der Erde wider; möglicherweise sollte es eine kosmische Ordnung zu einem bestimmten Zeitpunkt zeigen, wobei die Sonne und der Mond ganz links gezeichnet waren.
Unendlich behutsam entrollte ich über dem ersten den zweiten Bogen, auf dem eine etwas kleinere Bildtafel voller Ziffern abgebildet war, die in Spalten gegliedert und mit hebräischen Daten und lateinischen Initialen versehen waren. Die Hand, die jene Anmerkungen geschrieben hatte – die Farbe der Tinte spiegelte die verstrichene Zeit zwischen den ersten und den letzten wider –, war dieselbe, die auch die Buchstaben des Imago Mundi gezeichnet hatte, woraus ich folgerte, daß wohl beide von Evrard angefertigt worden waren. Nach einigem Kopfzerbrechen kam ich zu dem Schluß, daß es sich um eine Auflistung von Unternehmungen handeln mußte, die im Laufe von zehn Jahren – von Mitte des jüdischen Monats Shevat des Jahres 5063, das heißt seit Anfang Februar 1303, bis Ende des Monats Adar 5073 – ausgeführt worden waren. Ich versuchte herauszufinden, was es gewesen sein könnte, das der alte Templer da so sorgfältig aufgelistet hatte, jedoch ließ keine der Angaben es auch nur erahnen. Falls sie sich auf heimlich aus Paris herausgeschafftes Gold bezogen, so war dessen Menge jedenfalls unermeßlich.
Der dritte Bogen enthielt schließlich das, wonach ich so lange gesucht hatte: die von Evrard und Manrique unterzeichnete Abschrift eines Briefes, in dem einem unbekannten Adressanten der Erfolg ihrer Mission mitgeteilt wurde, die perfekte Ausführung dessen, was die beiden › Al-Yedoms Wiedergutmachung‹ nannten, oder, was auf dasselbe hinauslief, Jacques de Molays Fluch.
Befriedigt richtete ich mich auf und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Nun, sagte ich mir, würde Papst Johannes XXII. so große Angst haben, ermordet zu werden, daß er dem König von Portugal zweifellos die Erlaubnis erteilen würde, den neuen Orden der Christusritter zu gründen. Meine Arbeit, zumindest der Teil, der sich auf das, was man jetzt als die Ermordung Papst Clemens' V., König Philipps IV. des Schönen und des Siegelbewahrers Guillaume de Nogaret durch die Hand der Templer bezeichnen konnte, war beendet. Ich mußte nur noch dieses Dokument in Avignon übergeben und konnte dann nach Hause zurückkehren.
Indes blieb noch ein viertes Pergament, eigentlich nur ein Zettel, nicht viel größer als meine Handfläche. Ich beugte mich nochmals über den Tisch und betrachtete es genau. Es handelte sich um einen seltsamen hebräischen Text, der keinen Sinn ergab:
Er war nicht zu verstehen. Das verwendete Alphabet entsprach nicht der jüdischen Sprache, zumindest nicht der, die ich sehr gut zu kennen glaubte.
»Sara«, rief ich sie zu Hilfe, »schaut Euch das einmal an. Habt Ihr eine Ahnung, was das bedeuten soll?«
Die Zauberin beugte sich über meine Schulter.
»Tut mir leid«, rief sie wutschnaubend aus und wandte sich dann brüsk ab, »ich kann nicht lesen.«
Was zum Teufel sollte dieser Unsinn? Nun, jedenfalls war jetzt nicht der geeignete Augenblick, um das herauszufinden; mir wurde immer schwindeliger, und ich mußte unbedingt ein paar Stunden schlafen. Wie sehr trauerte ich doch meiner Jugend nach, als ich noch zwei oder gar drei Tage ohne Schlaf auskam, ohne daß mein Körper mir zu schaffen machte. Das Alter verzeiht nicht, dachte ich.
»Ihr seht nicht gut aus«, bemerkte Sara und betrachtete mich eingehend. »Ich glaube, Ihr solltet Euch auf meinen Strohsack legen und etwas ausruhen. Ihr seid ganz grün im Gesicht.«
»Ich bin einfach schon alt.« Ich lächelte. »Tut mir leid, ich muß gehen, obwohl ich gern ein paar Stunden schlafen würde. Jonas ist allein in der Herberge.«
»Na und?« brummte sie und zog mich am Wams von meinem Schemel hoch. »Wird er vor Angst sterben, wenn Ihr nicht erscheint? Wenn er ein vernünftiger Bursche ist, und diesen Eindruck erweckt er, wird er Euch schon hier suchen.«
Ich war zutiefst dankbar, daß jemand mir in jenem Moment die Entscheidung abnahm. Ich war wirklich
Weitere Kostenlose Bücher