Iacobus
interessiert nach.
»Weil das feh , wie Ihr mich gelehrt habt, auch wie ein ph klingen kann, so daß, wenn man es wie ein Ungebildeter liest, die Botschaft folgendermaßen lauten müßte … Wollt Ihr es hören?«
»Ich bin ganz gespannt.«
»Nun, so hört zu: Fuge per bicodulam serpentem magnam remissionem petens. Tuebitur te taurus usque ad Atlantea regna , das heißt übersetzt: ›Fliehe entlang der doppelschwänzigen Schlange und suche die Große Vergebung. Der Stier wird Dich bis in Atlas' Reiche beschützen.‹« Neugierig schaute er mich an. »Habt Ihr irgendeine Ahnung, was das bedeutet?«
Ich ließ ihn die Botschaft einige Male wiederholen, erstaunt über die Einfachheit und zugleich Gewitztheit jener dringlichen Nachricht. Plötzlich fügte sich alles zusammen; wenn nach den langen Nachforschungen in Paris noch irgendein Teil nicht gepaßt hatte, so lag nun die Lösung vor uns. Das plötzliche Verständnis der Nachricht trieb mich wie ein Wirbelsturm in die Vergangenheit zurück, ließ mich den Tunnel der Jahre und des Vergessens erneut durchqueren, als ob ich mich nie daraus befreit hätte. Ich war von dem tiefen Eindruck wie gelähmt, in Angst und Schrecken versetzt durch die Macht des fatum , der Schicksalsfügung: Mein eigenes Leben vermischte sich unverständlicherweise immer wieder mit jener Geschichte aus Verbrechen, Ambitionen und verschlüsselten Botschaften. Ich glaube, damals überkam mich zum ersten Mal eine Ahnung von jenem höheren Schicksal, von dem die Kabbala spricht, jenem Schicksal, das sich hinter den offensichtlichen Wechselfällen des Lebens verbirgt und das die geheimnisvollen Fäden der Ereignisse webt, die unsere Existenz ausmachen. Ich mußte mich wahrhaft anstrengen, um wieder in die Gegenwart zurückzufinden, um jenen Bann zu brechen, von einer ungeheuren Kraft zurück in die Vergangenheit gezogen zu werden. Mein ganzer Körper schmerzte, und ein tiefer Kummer lastete schwer auf meiner Seele.
»Hört Ihr mich, mein Herr Galcerán? … He … he …!« Überrascht fuchtelte Jonas mit der Hand vor meinen Augen herum.
»Ja, ja, ich höre dich«, versicherte ich ihm, nicht sonderlich überzeugt.
Nachdem ich ihn die Nachricht ein weiteres Mal hatte wiederholen lassen, erklärte ich ihm, was jene Mitteilung ziemlich deutlich zu verstehen gab: daß es Manrique de Mendoza – denn er mußte der Verfasser besagter Nachricht sein, wie man aus dem Inhalt schließen konnte – gelungen war, aus Frankreich zu entkommen, aber daß Evrard ihm damals auf seiner Flucht nicht folgen konnte, weil er vielleicht schon krank gewesen war. Besorgt um die Sicherheit seines Gefährten, hatte Manrique, wo auch immer er jetzt sein mochte, für ihn einen sorgfältigen Fluchtplan ausgearbeitet: Er flehte ihn an, er möge in Richtung der ›Reiche von Atlas‹ fliehen und dabei dem Weg der ›doppelschwänzigen Schlange‹ folgen, und er beruhigte ihn hinsichtlich möglicher auftauchender Schwierigkeiten, indem er ihm für die Reise den ›Schutz des Stiers‹ zusicherte.
»Aber was soll das heißen?« fragte mich Jonas. »Das scheint der Einfall eines Verrückten zu sein.«
»Es gibt nur eine doppelschwänzige Schlange, mein Junge, die zudem tatsächlich bis zu Atlas' Reichen führt und die Schritte derjenigen lenkt, welche die ›Große Vergebung‹ suchen. Hast du keine Ahnung, wovon ich rede?«
»Tut mir leid, Sire, nein, ich weiß es nicht.«
»Hast du denn während unserer langen Reise bei Einbruch der Nacht nie auf die Sterne geachtet? Auf die Konstellationen, auf diese unglaublich lange bicodulam serpentem , welche den nächtlichen Himmel mit aller Macht durchzieht?«
Jonas runzelte nachdenklich die Stirn.
»Meint Ihr die Milchstraße?«
»Was sonst sollte ich meinen? Und auf was sonst sollte sich Manrique beziehen, als er seinem Gefährten den Weg aufzeigte, wie er zu Atlas' Reichen gelangen könnte?«
»Und was für Reiche sind das?«
»›… als der Tag sich schon neigt‹«, rezitierte ich und richtete den Zeigefinger gen Himmel, »›aus Scheu, sich der Nacht zu vertrauen, läßt er auf westlichem Grund in den Reichen des Atlas sich nieder …‹ Hast du denn auch Ovid nicht gelesen, mein Junge? ›… Atlas war hier, des Iapetos' Sohn, der die Menschen an Leibes Ausmaß überragt. Unter seiner Herrschaft gelegen war das äußerste Land und das Meer …‹«
»Welch wunderschöne Verse«, flüsterte Jonas. »Also war Atlas ein Riese, der sein Reich am Westrand des
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