iBurn-out - Zeit fuers Wesentliche
worden. Und inmitten dieses grenzenlosen Chaos veranstaltete Ingo heute Nacht einen kleinen Feldversuch mit seinen neuen Psychopharmaka.
Ich verstand nicht, warum sein Psychiater ihm zwei unterschiedliche Medikamente mitgegeben hatte, die er gleichzeitig einnehmen sollte. Im Umgang mit dieser Art von Medikamenten war Ingo bis dato völlig unbefleckt gewesen.
Einen »Upper«, um morgens synthetisch in den Arsch getreten und einen »Downer«, um abends wieder gezügelt zu werden, leuchteten mir irgendwie ein. Für weltweit ausgebrannte Manager war ja das Frühstück mit einer Pille »Prozac« bereits salonfähig und zu einem medizinischen Verkaufsschlager geworden.
»Doppelt hält besser«, funktionierte bei Ingo jedoch gar nicht. Er zeigte mit seinem Burn-out nicht die häufig erkennbaren Depressionsmerkmale von Antriebslosigkeit. Ihn noch mehr anzutreiben war, wie ich es gerade miterleben konnte, verhängnisvoll. Anstatt dass er mit Hilfe der Pillen beruhigt wurde, knallte er nun mitten in der Nacht wie eine doppelt gezündete Rakete durch unsere Zimmerdecke.
Ich kannte mich nicht aus, wusste nicht, welche Nerven mit den Medikamenten beeinflusst werden sollten. Aber ich ahnte, dass die jetzige Wirkung nicht brauchbar war. Ingos Psychiater Rasputin hatte wohl das medizinische Standardprogramm für Depressionen abgespult, bevor er sich in seinen unbeschwerten Sechs-Wochen-Urlaub verflüchtigt hatte. An unsere kommenden sechs Wochen dachte ich mit Grauen.
Ich schob Ingo sanft ins andere Zimmer auf unsere Matratzen und legte mich ganz dicht neben ihm. Das Licht traute ich mich nicht auszumachen. Denn nun wanderten nicht mehr nur seine Beine, sondern auch seine Augen ziellos durch den Raum, ohne etwas Bestimmtes zu fokussieren. Er war so überreizt und aufgedreht, dass ich ihn kaum im Arm halten konnte. Die Arme und Beine wühlten sich unruhig ins Bettlaken. Andauernd drehte er sich von der einen auf die andere Körperseite, drückte sein Kissen unter den Kopf, um es danach wieder wegzuschupsen.
Ich startete hilflos mit dem Aufsagen meines Mantras: »Alles wird gut, Ingo.« Immer wieder beruhigte ich ihn und mich selbst. Dabei streichelte ich ihm über seinen heißen Kopf. Sein Körper glühte vor Aufregung und Anspannung.
»Ingo, versuch doch zu schlafen«, redete ich ihm ruhig ein. »Mach deine Augen zu. Alles wird gut.«
»Das versuche ich doch schon die ganze Zeit.« Er betrachtete mich mit aufgerissenen Augen, bis sich seine oberen Lider langsam senkten und auf die unteren legten. Für einen kurzen Moment atmete ich erleichtert auf. Es hieß doch immer »sich gesund schlafen«.
Plötzlich riss Ingo seine Augen ruckartig wieder auf. Die zurückgeschlagenen Lider versenkten sich vollständig in die Augenhöhlen. Seine Augen hatten die doppelte Größe des Normalzustands eingenommen. Gut, dass die Kugeln an irgendwelchen Bändern hingen und mir nicht mit Überdruck entgegen springen konnten. Er blinzelte nicht und starrte mich an. »Das versuche ich ja schon seit Stunden. Aber die Augen gehen immer wieder auf.«
Seine Augen glichen den Glasaugen einer Puppe, die sich beim Heben und Senken des Puppenkörpers öffneten und schlossen. Nur lag neben mir keine handliche Puppe, deren gelenkige Gliedmaßen ich spielerisch verbiegen konnte. Und seine Augen öffneten sich, auch ohne dass er aufstand oder hoch gehoben wurde.
»Die gehen wieder auf. Die gehen einfach immer wieder auf«, beschrieb mir Ingo seine Augenfunktion.
Die Nacht war lang. Stunden über Stunden spielten wir das Augen-auf-Augen-zu-Spiel. Sein Körper lag in meinen Armen und wurde mit jeder Stunde ruhiger. Die Angst flaute in mir ab. Die Wirkstoffe der Psychopharmaka wurden allmählich abgebaut. Seine Augen blieben länger geschlossen, bis er sie gar nicht mehr aufriss. Er war eingeschlafen und die geisterbahntaugliche Showeinlage für diese Nacht beendet.
Ich wünschte mir auch eine kleine Mütze Schlaf, bevor die Sonne aufging und zumindest ich zur Arbeit gehen musste. Aber meine Gedanken geisterten noch zu sehr herum, als dass der erholsame Schlaf mich einfangen konnte.
Ich war fest entschlossen, jetzt dringend die Hilfe eines anderen Fachmanns in Anspruch zu nehmen. Ingo musste einen Menschen finden, dem er vertraute, dem er sich öffnen konnte und bei dem die zwischenmenschliche Chemie stimmte. Diese Person hatte er mit seinem Psychiater Rasputin offensichtlich nicht gefunden. Wir durften jetzt nicht den Fehler begehen am Erstbesten
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