iBurn-out - Zeit fuers Wesentliche
spinnt doch. Tickt der nicht mehr richtig?«, schimpfte er laut vor sich hin. Dabei gestikulierte er wild mit den Armen.
Als ich auf ihn zutrat, knarrte der alten Holzboden unter meinen nackten Füßen. Er richtete seinen Blick auf mich, hielt mir einen weißen Zettel vor das Gesicht und fluchte: »Der kann mir doch nicht so einen Mist geben.« Ingo fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar. Immer und immer wieder, so als wollte er böse Geister aus seinem Kopf vertreiben. Tiefe Falten zerfurchten sein müdes Gesicht. Der Ausdruck glich einer Karikatur seiner selbst.
Verwundert sah ich mich in unserem Wohnzimmer um, aber konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. »Was ist das?« Ich nahm ihm den Beipackzettel eines Medikaments aus der Hand und fing an zu lesen.
»Das kann er doch nicht machen. Das geht doch nicht.« Wie ein Mantra wiederholte Ingo beharrlich und unablässig die gleichen Sätze. »Das kann er doch nicht machen. Das kann er doch nicht mit mir machen.«
Vor meinen Augen verschwamm das Kleingedruckte auf dem Beipackzettel. Ich setzte die einzelnen Buchstaben zu Wörtern zusammen, aber sie ergaben keinen Sinn. Der entrissene Schlaf umnebelte noch meine Augen und das klare Denkvermögen. Ich las einen Firmennamen, den ich nicht kannte und den Namen eines Medikaments, der mir ebenfalls nichts sagte. Der Wirkstoffname war lang und reichte von der linken bis zur rechten Seite des Zettels. Ich konnte das jetzt nicht alles lesen und verstehen schon gar nicht. »Was ist das?«, gähnte ich müde.
Ingo fing an, in Unterhose und T-Shirt unbestimmt durch den Raum zu hetzen. Nach einigen Metern wechselte er die Seite, wie ein klaustrophobisches Tier in einem Käfig.
Meine Frage an ihn schien gar nicht bis in sein Bewusstsein vorgedrungen zu sein. Also stellte ich sie noch mal. »Ingo, was ist mit dir los?«
Keine Antwort.
Plötzlich war ich hellwach. Ich legte den Beipackzettel auf unseren großen Tisch. Erst jetzt sah ich, dass zwei Medikamentenpackungen aufgerissen darauf lagen. Im durchsichtigen Plastik steckten reihenweise farbige Tabletten. Einige waren durch die Aluminiumschicht heraus gedrückt worden, hier fehlte die Farbe der Pillen. Ein weiterer Beipackzettel lag zerknüllt und achtlos weggeworfen daneben.
Ich bewegte mich langsam auf Ingo zu, der immer noch in kleinen Runden durch das Wohnzimmer hetzte. Es sah nicht so aus, als würde er jemals wieder anhalten wollen. Deshalb ergriff ich seine Hände. Er ließ sich widerstandslos festhalten und schaute hoch. Er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen und riesigen Pupillen an. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken, weil die Augen so nichtssagend und fremd wirkten. Ich konnte mir nur erklären, dass die Medikamente ihnen das Aussehen gegeben hatten.
»Rasputin, mein Psychiater, hat mir nach meiner Sitzung diese Medikamente gegeben.« Dabei erhob Ingo seinen Zeigefinger und wies auf die Medikamentenpackungen. »Er hat mir dazu nur erklärt, dass ich jeweils eine Tablette vorm Schlafengehen nehmen soll. Also habe ich vorhin die Dosierungsanleitung gelesen und sie beide entsprechend eingenommen.«
Ich verstand überhaupt nichts mehr. »Aber das ist doch gut. Warum bist du denn so aufgeregt?«
»Wegen dieser komischen Dinger hier. Ich habe jetzt alles auf dem Beipackzettel gelesen.« Er zeigte wieder auf die Pillen. »Das will ich nicht. Ich wollte doch nur wieder schlafen. Ich bin nicht antriebslos, ganz im Gegenteil. Ich wollte endlich wieder schlafen.«
Irgendwie kam ich nicht weiter. Etwas verängstigte ihn und machte ihn fast hysterisch. So hatte ich ihn noch nie erlebt. Langsam steigerte sich meine Angst. Ich hielt ihn immer noch an den Händen fest. Hinter ihm stand die Balkontür weit offen. Es drang frische Nachtluft herein, aber irgendwie wollte ich sie so schnell wie möglich schließen. Ich ließ Ingos Hände los, ging um ihn herum und schloss energisch die beiden Glastüren gegeneinander.
Ingo setzte seinen Marsch durch das Wohnzimmer fort.
Fassungslos stand ich daneben. High and Fly, dachte ich erschüttert. Ich musste mir die Ernsthaftigkeit ins Gedächtnis rufen, denn die Situation mutete wirklich skurril an. Ich sah einen völlig abwesenden Menschen zwischen aufgestapelten Bananen-Kartons, inmitten von Taschen und Koffern, provisorisch aufgebauten Kleiderständern und Bergen von Klamotten umherirren. Alle Gegenstände waren wegen der Bauarbeiten in unserer Wohnung in diesem einen Zimmer bis zur Decke hochgestapelt
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