iBurn-out - Zeit fuers Wesentliche
könnte.
Wieder tauchte in meinem Kopf dieser eine Abend auf, der sich als Schlüsselszene für Ingos Krankheit herausgestellt hatte: Ich sah ihn eines Abends auf unserem Bett liegen. Die kleine Lampe auf seiner Seite des Bettes schien über sein nasses Gesicht. Dieses Mal weinte er keine lautlosen Tränen oder hielt sie kämpferisch zurück, sondern er schluchzte herzzerreißend laut. Sein gesamter Körper schüttelte sich heftig unter den Weinkrämpfen. Dabei war ihm sein abnehmender Energiepegel ins Gesicht geschrieben. Die sonst immer neugierigen, glücklich aussehenden Augen hatten ihren Glanz verloren. Sie wirkten matt und müde, umschattet von tiefen Augenringen und Tränensäcken. Seine graue Hautfarbe glich der eines alten Mannes, der seit langem keinen einzigen Sonnenstrahl auf der Haut gespürt hatte. Ingo, als großer Liebhaber des Essens, hatte an Gewicht verloren. Sein Äußeres war das Spiegelbild seines Inneren. Er lag weinend auf dem Bett und wirkte, obwohl ich bei ihm war, völlig alleine. Ich konnte ihn nicht mehr erreichen.
Bei diesem Anblick zog sich mein Magen zusammen. Seit langem hatte ich nicht mehr eine solch tief sitzende Angst gespürt. Ich fühlte mich völlig hilflos. Mein eigenes Leben war schon von Notlagen gestreift worden, aber es war immer beängstigend, wenn eine Situation zum ersten Mal auftrat. Das neue Muster lag in meinem Kopf nicht abgespeichert vor. Ich stand nun wie eine Statistin hilflos neben dem Geschehen und wusste nicht, was zu tun war.
Mich beschäftigten plötzlich Gedanken und Ängste, die ich nicht aus der Luft griff oder hochstilisierte. Sie waren mittlerweile sehr wahrscheinlich geworden: Würde Ingo den Tag ohne körperlichen Zusammenbruch überstehen? Könnte er plötzlich in der Nacht mit starken Schmerzen in der Brust aufwachen oder leise im Schlaf sterben? Eine nicht abschätzbare Bedrohung hing über ihm. Der Körper war schlau genug, um ein Ventil zum »Dampfablassen« zu finden. Wie lange konnte sein Körper dem Druck noch standhalten? Wir selbst kannten bereits Personen, die einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten hatten, mit Vierzig und damit in Ingos Alter.
Obwohl die Endlichkeit des Lebens soweit von unserem scheinbar gesunden und jungen Leben entfernt war, schlich sie sich in diesem Moment in meine Gedanken.
Mit dem heutigen, erfolglosen Termin beim Psychiater schienen wir wieder am Anfang zu stehen. Die Gefahr war offensichtlich nicht gebannt. Sein Hausarzt hatte ihn zwar krankgeschrieben, aber die Symptome des Burn-out wurden noch nicht behandelt, geschweige denn den Ursachen auf den Grund gegangen. Ingo und ich diskutierten stundenlang, was wir tun sollten und drehten uns am Ende nur noch im Kreis, ohne wirklich eine sinnvolle Lösung gefunden zu haben.
Es war mittlerweile schon weit nach Mitternacht. Ich legte mich erschöpft schlafen. Am nächsten Morgen würde ich wieder einigermaßen erholt arbeiten müssen. Die letzten Monate hatten einer rasanten Achterbahnfahrt geglichen, die auch an mir nicht spurlos vorbei gegangen war. Ich hörte Ingo noch leise in der Küche herumpoltern, bevor ich innerhalb von Sekunden eingeschlafen war.
Irgendetwas riss mich ruppig aus dem Schlaf. Lange konnte ich noch nicht geschlafen haben, zumindest fühlte ich mich aus meiner Tiefschlafphase aufgeweckt. Ich musste kurz meine Gedanken sortieren, um zu wissen, wo ich war: Ich lag nicht in meinem vertrauten Bett im Schlafzimmer, sondern auf einer Matratze am Boden. Das Schlafzimmer lag am anderen Ende des Flurs und war, wie die Hälfte unserer Wohnung, zurzeit eine Großbaustelle. Unsere Mietwohnung war durchsetzt von Hausschwamm und musste grundsaniert werden. Der Putz wurde von allen Wänden abgeschlagen und von Schwamm durchfressenes Holz wurde herausgerissen. Im Boden klafften große Löcher, die den Blick in die untere Wohnung zuließen. Obwohl alles abgeklebt war und wir uns durch herunterhängende Plastikfolien den Weg durch die Wohnung bahnten, lag auf allen Gegenständen ein feiner grauer Staubfilm. Ingo setzte mit seinem Burn-out inmitten dieses Chaos dem Ganzen gewissermaßen das Krönchen auf.
Ich richtete mich von der Matratze auf. Aus dem anliegenden zweiten Wohnraum schien Licht. Die Deckenlampe war angeschaltet und erhellte den Raum. Ingo stand an der offenen Balkontür und schaute in die Nacht. Allerdings nicht mit der gewohnten Ruhe, mit der er ansonsten auf die Elbe oder auf die vorbeifahrenden Schiffe schaute.
»Der
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