Icarus
»Haben Sie eine Ahnung, wie er auf den Spitznamen ›Erfüllung‹ kam?« fragte Jack.
»Nein.«
»Topeka ist ein Städtchen, Cleveland ist eine Stadt… aber Rom ist eine Erfüllung.«
Sie lächelte, ein trauriges Lächeln, und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, ob ich das bin oder nicht«, gestand sie ihm. »Aber er hatte so eine idealisierte, naive Vorstellung von mir.«
»Vielleicht war sie treffender, als Sie ihm zugestehen wollen.«
»Nein. Glauben Sie mir. Ich werfe mit Gegenständen um mich, ich kaue auf den Fingernägeln, ich habe eine ganze Menge Dinge getan, die ich nicht hätte tun sollen. Verdammt, ich tue sie noch immer. Ich mache eine Menge Fehler.«
»Vielleicht war ihm das egal.«
»Nein, er hat sie nicht gesehen. Er wollte sie nicht sehen.«
»Wie haben Sie ihn kennengelernt?«
»Er hat mich auf der Straße angesprochen. Ich ging in die Galerie, er wollte rauf in den Fitnessclub. Ich ließ ihn abblitzen, ich bin nicht sehr scharf darauf, auf der Straße angequatscht zu werden, aber Kid war ziemlich beharrlich. Er kam dann öfter in die Galerie, wir unterhielten uns, und dann, eines Abends, war ich mit einer Freundin in einem Club, und er war ebenfalls da. Er war allein, es war spät, zwei oder drei Uhr morgens, und er sah ein wenig angeschlagen aus. Ich fragte ihn, was los sei, und er sagte, er habe sich gerade mit jemandem gestritten. Er wollte mir nicht verraten, worum es gegangen war, nicht zu diesem Zeitpunkt, aber er sah so verletzlich aus, daß man ihm kaum widerstehen konnte. Am Ende unterhielten wir uns die ganze Nacht. Und dann … Sie wissen ja, wie solche Dinge ablaufen.«
»Hat er Ihnen jemals erzählt, worum der Streit sich gedreht hat? Oder mit wem er sich gestritten hat?«
Sie zögerte. »Ich sagte Ihnen doch, ich fühle mich nicht sehr wohl dabei, über seine Geheimnisse zu sprechen.«
»Gibt es denn bei ihm so viele Geheimnisse?«
»Ich glaube, jeder Mensch hat seine Geheimnisse, meinen Sie nicht?«
»Ja«, sagte Jack. »Ich glaube schon.« Er trank einen tiefen Schluck von seinem Bier. »Haben Sie sich mit ihm noch in der Zeit getroffen, als er starb?«
»Nein«, antwortete sie. Abermals zögerte sie, schien noch mehr sagen zu wollen, schwieg aber.
»Wer hat Schluß gemacht?« fragte er.
»Ich war es. Es war nicht richtig. Ich meine, Kid war interessant und sah gut aus, und ich mochte ihn sehr, aber das Ganze hatte keine Perspektive, jedenfalls nicht für mich. Er war nicht das, was ich brauchte oder mir wünschte.«
»Wie hat er es aufgenommen?«
»Er hat es nicht akzeptiert. Ich sagte Ihnen doch, Kid war beharrlich.« Sie preßte die Lippen zusammen. Eine Erinnerung. »Haben Sie jemals gesehen, wenn er ein besonders schweres Gewicht stemmte? Nun, das war ich für ihn. Er glaubte, wenn er sich noch mehr anstrengte, sich noch mehr bemühte, würde zwischen uns der Funke überspringen. Aufgeben war nichts für ihn. Deshalb weiß ich, daß er sich immer für das Leben entschieden hätte – falls er eine Wahl hatte.« Sie leerte ihr Bierglas. »Gibt es noch mehr, was Sie mich fragen wollen?«
»Wo waren Sie, als Kid starb?«
»Stehe ich auf Ihrer Verdächtigenliste?« Als Jack die Achseln zuckte, schien sie nicht beleidigt zu sein, sondern meinte: »Ich hatte an diesem Abend in meiner Galerie eine Vernissage. Massenhaft Zeugen.« Grace machte eine fast entschuldigende Geste. »Hören Sie«, sagte sie dann. »Kid zog immer durch die Clubs. Er kannte unterhalb der 14 th Street jeden Drogensüchtigen und Perversen. Das ist typisch für diese Gegend. Wer immer es getan hat, Sie werden ihn niemals finden.«
»Ich bin mir ziemlich sicher, daß er eine Sie ist. In der Nacht, als er starb, war eine Frau in seinem Apartment.«
Das überraschte sie offenbar. »Woher wissen Sie das?«
»Von der Polizei.«
»Ich dachte, Sie hätten gesagt, daß die Polizei sich nicht damit befaßt?«
»Das tut sie auch nicht mehr. Aber sie hat sich immerhin so weit damit befaßt, daß sie darauf gestoßen ist.«
Sie stotterte ein wenig, als sie weiterredete. Diese Neuigkeit hatte sie offenbar ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht. »Nur bei ihm gewesen zu sein heißt nicht, daß sie ihn auch getötet hat, oder? Selbst wenn Sie sie finden sollten, beweist das überhaupt nichts.«
»Vielleicht nicht. Aber das werde ich nicht wissen, solange ich sie nicht gefunden habe.«
Danach sagte Jack nichts mehr. Der Kellner kam und störte das Schweigen, und Jack bezahlte die Rechnung.
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