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Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
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Kunstwerke waren über das ausgedehnte Parterre verteilt. Etwa zwanzig große Glaskästen, die aussahen wie Aquarien. In jedem Kasten befand sich eine Sandwelle oder ein Erdhügel. Ein Kasten war genau in der Mitte geteilt. Die eine Hälfte war völlig leer, die andere war mit gemähtem Gras vollgestopft. Er betrachtete gerade ein wenig ratlos das Gras, als er hinter sich eine Frauenstimme vernahm.
    »Gefällt es Ihnen?«
    Er fuhr herum und wußte, daß er an der richtigen Adresse war. Die Frau, die ihn angesprochen hatte, war absolut phantastisch. Nicht groß, vielleicht eins sechzig, aber irgendwie erschien sie groß. Ihre perfekte Haltung und ihr schlanker, ebenmäßiger Körper verliehen ihr scheinbar zusätzliche Größe. Ihr Haar war mit Henna getönt und hatte einen leuchtenden kupferfarbenen Schimmer, was bis auf ihre hellblauen Augen und die prägnante rotgetönte Brille der einzige Farbtupfer an ihr war. Alles andere war schwarz: ein schwarzes Tank-Top unter einer schwarzen Bluse, ein kurzer schwarzer Rock, schwarze Strumpfhosen und wadenhohe schwarze Stiefel. Ihre Lippen waren ausgesprochen dünn, und das knappe Lächeln, das sie zeigten, verlieh ihr eine Ausstrahlung aus Selbstbewußtsein und Verletzlichkeit. Jack war wie geblendet.
    »Ich verstehe das nicht«, sagte er und deutete auf den Glaskasten mit dem Gras.
    »Es ist postmodern«, sagte die Frau. »Es gibt nichts zu verstehen. Alles ist Konfusion.«
    »Ah. Das ist etwas, womit ich mich auskenne.« Jack streckte die Hand aus. »Sie sind Grace Childress, nicht wahr?«
    Sie nickte und reichte ihm ihrerseits die Hand. Ihr Griff war hart und fest, und Jack verspürte den gleichen elektrischen Schlag wie bei seinen Begegnungen mit der Totengräberin und der Entertainerin. Allerdings war diese Frau um einiges reizvoller. Sie hatte die gleiche sinnliche Ausstrahlung wie die anderen, aber sie war nicht von dieser Aura der Gefährlichkeit umgeben, dieser deutlich wahrnehmbaren Empfindung, bei ihr am Rand eines Abgrunds zu wandeln.
    »Ich bin Jack Keller«, fuhr er fort. Der Name hatte offenbar keinerlei Bedeutung für sie, daher versuchte er es mit einem Schuß ins Blaue. »Der Metzger«, sagte er, und das kam eindeutig an. Er sah es in ihren Augen, wie sie sich verengten, und in der Art, wie sie plötzlich neugierig den Kopf zur Seite neigte.
    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie.
    »Ich bin ein Freund von Kid Demeter. Ich versuche herauszubekommen, was mit ihm passiert ist.«
    »Er ist tot.«
    »Ja, das weiß ich«, sagte Jack. »Ich meine, ich versuche in Erfahrung zu bringen, wie es geschah. Und weshalb.«
    »Über das Wie wissen wir doch Bescheid, oder etwa nicht?«
    »Wissen wir es?«
    »Ja«, sagte sie. »Jemand hat ihn umgebracht.«
    Jack starrte sie für einen kurzen Moment erschrocken an, dann konnte er nicht anders. Ein erleichtertes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
    »Macht es Ihnen etwas aus, das zu wiederholen?«
    »Jemand hat ihn umgebracht. Ich glaube, das ist offensichtlich, finden Sie nicht?«
    »Doch«, sagte er. »Das finde ich.«
    Sie aßen bei Jerry’s in der Prince Street, einem gutbürgerlichen Restaurant, das auf einfache Grillgerichte spezialisiert war.
    »Die Novizin, hm?« sagte Grace. »Nicht besonders treffend, finde ich.«
    »Ich glaube, es hat sich geändert. Nach meinem Dafürhalten bekamen Sie im Laufe der Zeit einen neuen Spitznamen.«
    »Nun, wie immer der lautete, er ist hoffentlich besser als ›Die Novizin‹.«
    »Das ist er auch«, sagte Jack. »Es ist möglich, daß er dazu überging, Sie ›Die Erfüllung‹ zu nennen.«
    Graces Augen zwinkerten, und sie senkte den Kopf. »Nein«, verriet sie ihm. »Das war nicht ich. Kid hat mir von Der Erfüllung erzählt. Sie war etwas aus seiner Vergangenheit. Jemand … nun, belassen wir es dabei, daß er mir von ihr erzählt hat. Ich finde es nicht gut, seine Geheimnisse zu verraten. Sogar jetzt noch nicht.«
    »Er hat mir ebenfalls von ihr erzählt«, sagte Jack. »Aber er erzählte mir auch, daß er jemanden kennengelernt hätte, von dem er glaubte, er könnte die zweite Erfüllung sein. Ich meine, das könnten Sie sein.«
    »Wie kommen Sie darauf?«, fragte Grace.
    »Nur so eine Ahnung. Er hat ein paar Details erwähnt … und Sie scheinen der Beschreibung zu entsprechen.« Jack hob die Hand, und als der Kellner erschien, bestellte er ein zweites Bier. Er schaute fragend zu Grace, doch sie schüttelte den Kopf. Sie hatte ihr erstes Glas noch nicht geleert.

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