Icarus
ohne einen Schlüssel. Es wäre unmöglich.
Jack überlegte, wer einen Schlüssel hatte, um in die Wohnung zu kommen. Er hatte natürlich einen sowie ein Duplikat. In einem Reflex griff er in die Tasche. Der Schlüssel war dort, wo er sein sollte. Er ging in die Küche zu dem kleinen Haken am Kühlschrank, wo der Ersatzschlüssel hing. Er befand sich an Ort und Stelle. Tatsächlich waren dort zwei Duplikate, was Jack für einen kurzen Moment verwirrte, dann fiel ihm ein, daß es noch einen dritten Schlüssel gab. Carolines Schlüssel war ihm zusammen mit ihren anderen persönlichen Dingen aus Virginia übergegeben worden.
Wer sonst noch? Dom hatte einen, und sein Name war außerdem unten bekannt als jemand, der jederzeit eingelassen werden sollte. Wenn jemand über jeden Verdacht erhaben war, dann Dom. Mattie hatte einen Schlüssel, und ihr Name stand ebenfalls unten in der Liste. Aber die arme Mattie war tot, und selbst wenn sie noch am Leben wäre, hätte sie niemals so etwas tun können wie dies …
Jack bemerkte plötzlich eine ungewöhnliche Unruhe unten auf der Straße. Gewöhnlich konnte man den Verkehr so hoch oben gar nicht hören, aber das hektische Hupen war eindeutig, wahrscheinlich ein Unfall. Jack drehte sich instinktiv zum Balkon um und spürte im selben Moment einen Hauch warmer, sommerlicher Luft, und in diesem Moment nahm er zur Kenntnis, daß die Balkontür offenstand. Nein, nicht einfach offen …
Jemand hatte sie eingeschlagen.
Eine kleines Stück der großen Glasscheibe war zerbrochen. Direkt neben der Klinke. Und die Tür war offengelassen worden. Etwa fünfzehn Zentimeter.
Jack ging langsam hin. Er starrte auf die Scherben, die auf dem Teppich funkelten. Blickte wieder zu dem gezackten Loch. Dann schaute er hinaus auf den Balkon und zu der Mauer, die bis zum benachbarten Gebäude reichte.
Niemand hatte einen Schlüssel gebraucht, um in seine Wohnung zu gelangen.
Jemand war einfach über die Mauer eingestiegen. Die drei Meter lange, dreißig Zentimeter breite Mauer. Siebzehn Stockwerke über der Straße.
Jack erinnerte sich, wie Kid, nicht lange vor seinem Tod, auf die Mauer gesprungen und darüber gelaufen war.
Hey, weißt du, daß man von hier zum nächsten Gebäude praktisch hinüberspazieren kann?
Jack erinnerte, wie sich sein Magen verkrampfte hatte.
Ernsthaft. Die Gebäude sind miteinander verbunden.
Er erinnerte sich, wie sein Mund schlagartig trocken geworden, wie alles vor seinen Augen verschwommen war …
Man könnte über diese Leiste gehen und auf das andere Dach gelangen. Sicher, man müßte schon ziemlich verrückt sein, aber…
Jack schob die Balkontür so heftig zu, daß mehr Glas zersprang und sich auf dem Fußboden verteilte. Er stand da, ein wenig schwankend, hielt sich an der Klinke fest und starrte noch immer auf das benachbarte Dach. Er fragte sich nicht mehr, wer Kid getötet hatte. Und er fragte sich nicht mehr, wer Leslee auf dem Gewissen hatte.
Er fragte sich jetzt, ob dieselbe Person auch ihn töten würde.
Jack machte einen Schritt in Richtung Telefon. Er würde McCoy anrufen. Sie hierher holen, sie all das begutachten lassen und ihr klarmachen, was im Gange war, und sich von ihr beschützen lassen. Dann dachte er: Nein. Sie würde noch immer nicht verstehen. Und Polizisten beschützen nicht, sie reagieren. Sie wird mir raten, eine neue Tür einsetzen und eine Alarmanlage einbauen zu lassen. Sie wird mich fragen, ob ich all das vielleicht selbst inszeniert hätte, damit sie glaubte, ich hätte recht.
Scheiß auf McCoy, dachte er.
Und scheiß auf den, der das hier getan hat.
Ich werde nicht aufhören zu suchen. Ich werde sie finden. Und zwar jetzt gleich .
Zweiundvierzig
Um drei Uhr am nächsten Nachmittag war die Glastür ersetzt, war eine Alarmanlage installiert – wobei der Techniker, der sie einbaute, in einem fort murmelte: »Wer ist wohl verrückt genug, von hier aus einbrechen zu wollen?« – und arbeitete ein Anstreicher an den Wänden in Wohn-und Schlafzimmer.
Und Jack hatte knapp über drei Stunden an seinem Computer verbracht und nach der Novizin gesucht.
Für Jack war es logisch, sie zu suchen, denn er vermutete, daß sie im Laufe der Zeit zur Erfüllung geworden war, und weil er sich an den Winter, Mitte Januar, erinnerte. Seine Erinnerung war deshalb so deutlich, weil es der Tag gewesen war, an dem Kid zum erstenmal das Hopper-Gemälde gesehen hatte. Nachdem er den Tag herausgesucht hatte, an dem er das Bild gekauft, und dann
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