Icarus
entspannte. »Wir haben uns deinetwegen gestritten.«
Sie hatte recht. Er war überrascht. »Warum über mich?«
»Weißt du, das Ganze ist nicht einseitig, es ist nicht so, daß ich die Familie nicht mag. Die Familie hatte aber nicht allzu viel übrig für mich. In unserer Familie hat jeder jemanden. Oder hatte . Caroline und Llewellyn waren, als sie noch klein waren, die besten Freundinnen. Dann hatte Caroline dich. Llewellyn hat ihren todlangweiligen Mann und ihre noch todlangweiligeren Kinder. Sogar Momma und Daddy, sie hatten einander und lebten in ihrer eigenen kleinen Welt. Das war schon immer so. Aber ich, nun, ich hatte nur mich selbst, und das war es auch schon im großen und ganzen. Das heißt aber nicht, daß mir das jemals gefallen hat. Ich weiß, wie es ist, allein zu sein. Und ich glaube nicht, daß jemand sein Leben wegwerfen und riskieren sollte, um am Ende allein dazustehen.«
»Hast du angenommen, daß Caroline im Begriff war, das zu tun?«
»Ich glaube, das genau passiert, wenn man eine Affäre hat, ja.«
»Hatte sie eine Affäre mit Kid?« fragte er und schloß die Augen.
»Das glaube ich, ja.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, Jack, und auch wenn wir eine sehr elegante und kultivierte Stadt sind, so sind wir noch immer eine kleine Stadt. Und in einer kleinen Stadt tratschen die Leute. Und ich gehöre zu denen, die gern tratschen, daher höre ich mehr, als mir lieb ist.«
»Also kamst du her, um ihr was zu sagen?«
»Um ihr zu sagen, daß sie nicht ihren geliebten Ehemann verletzen und ihr eigenes Leben ruinieren und Schande über die Familie bringen sollte. Mag sein, daß ich nicht geliebt werde, aber ich weiß noch immer um die Bedeutung eines Familiennamens.«
»Wie hat sie es aufgenommen?«
»Wie wir Hinterwäldler zu sagen pflegen, wir hatten ein wenig Zoff.«
»Erzähl.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie sagte, ich hätte keine Ahnung, es wäre nicht so, wie ich es mir vorstellte, und daß ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte. Ich gab zu, daß es mich nichts anginge, aber ich wüßte genau Bescheid.«
»Und dann?«
»Und dann ging ich. Ich ging und überließ es ihr, zu tun, was sie mit ihrem und deinem Freund tun wollte.«
Sie schauten einander an, der Schmerz war tief in Jacks Gesicht eingemeißelt. Susannas Miene war unbewegt und gleichgültig. »Ja«, sagte sie, als hätte er eine Frage gestellt. »Ich bin tatsächlich ein gefühlloses und scharfzüngiges Biest. Und ich war nicht ganz selbstlos, als ich zu ihr kam, ich habe den Schmerz genossen, den ich ihr zufügte. Ich war eifersüchtig auf meine kleine Schwester und wünschte ihr alles Schlechte. Aber ich wünschte ihr nicht, was ihr geschah, und ich wünsche dir nicht, was du jetzt durchmachst.« Ihr Tonfall wurde weicher, nur ein wenig, und einen Moment lang hörte Jack einen Hauch von Carolines Stimme – dieses Dehnen der Silben, diese überraschende Heiserkeit –, als Susanna sagte: »Du warst nicht mehr hier, seit sie beerdigt wurde, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Jack.
»Möchtest du ihr Grab sehen? Wenn ja, zeige ich es dir, und ich werde still sein und sagen, daß es mir für dich leid tut, und es auch so meinen.«
Es war nicht so schlimm, wie er es sich vorgestellt hatte.
Teils, weil es irgendwie nicht real war. Das war nicht sie. Es war nur ein Stein. Es war nicht die Frau, die er geliebt hatte und mit der er verheiratet gewesen war und sein Leben verbracht hatte. Es war nur ein Steinklotz und ein kleines Fleckchen Erde.
Der Platz, an dem Caroline begraben lag, war wunderschön. Er wußte, es war ihr Lieblingsplatz auf dem Anwesen. Unweit der Scheune und unter einem prächtigen Magnolienbaum, der Hunderte von roten Blüten trug. Er sah sie vor sich, wie sie ihr Pferd aus dem Stall führte, elegant ein Bein über seinen Rücken schwang und es mit dem sanftem Druck ihrer Fersen antrieb. Er sah, wie das Pferd schnell wie der Wind dahinstürmte und Caroline lachte und dabei so leicht im Sattel saß, als wären Mensch und Tier ein einziges Wesen. Er konnte sie unter dem Baum sitzen sehen, den Rücken an den Stamm gelehnt, die Augen geschlossen, das liebliche Gesicht der Sonne zugewandt.
»In gewisser Weise bist du die Glückliche«, sagte er zu dem Stein vor sich. »Du brauchst nicht mehr zu fühlen.«
Im Restaurant war es so schlimm, wie er erwartet hatte.
Es hatte sich nicht viel verändert, und er glaubte, er wäre darauf vorbereitet,
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