Icarus
aus.
Sie wußte, spätesten am nächsten Morgen würden sie in allen Revolverblättern vom Enquirer bis zur New York Post zu bewundern sein. Sie konnte sich nicht erklären, wie, zum Teufel, diese Zeitungen wieder und wieder in den Besitz von Tatortfotos gelangen konnten, aber sie schienen es irgendwie immer zu schaffen. Und dieses war definitiv eine Titelseite wert.
Joe und Eva Migliarini in ihrem eigenen Heim erstochen.
In ihrem eigenen Schlafzimmer.
Himmel noch mal. Wie konnte es passieren, daß der Chef einer der Mafia-Familien New Yorks in seinem eigenen Schlafzimmer vom Leben zum Tode befördert wurde?
Sie spürte die Vorboten heftiger Kopfschmerzen. Das war es, was sie jetzt gerade noch gebrauchen konnte – eine Migräne.
McCoy hatte den Tag damit verbracht, nach Grace Childress zu suchen. Ohne Erfolg. Die Frau war verschwunden. Was passiert war, gefiel ihr gar nicht. Sie und ihr Partner hatten der Wohnung der Frau einen Besuch abgestattet, und sie hatte sich als untervermietet entpuppt. Das deutete auf eine gewisse Wurzellosigkeit hin, und das war selten ein gutes Zeichen. Sie hatten einen Richter gefunden, der ihnen sofort eine Verfügung zum Betreten des Apartments verschaffte, aber McCoys Suche förderte wenig zutage, außer daß dem Anschein nach eine ganze Menge von Graces Kleidern verschwunden waren. Es sah so aus, als hätte Kids Novizin/Erfüllung ihre Siebensachen gepackt und das Nest verlassen. McCoy hatte eine Menge Leute draußen, die nach ihr Ausschau hielten, aber sie hatten nicht sehr viel, woran sie sich orientieren konnten. Ihre Nachbarn kannten sie kaum. Die Untervermietung war durch eine Agentur arrangiert worden. Der Wohnungseigentümer hatte höchsten eine halbe Minute mit ihr gesprochen. Die Portiers kannten sie nicht sehr gut, denn so lange hatte sie dort noch nicht gewohnt.
McCoy griff zum Telefon und wählte eine zweistellige Nebenstellnummer. »Lewis«, sagte sie und stellte sich den teiggesichtigen, leicht vertrottelt wirkenden Polizisten am anderen Ende vor. Lewis sah aus, als hätte er in seinem ganzen Leben noch keine frische Luft kennengelernt. Als lebte er im Reviergebäude, was durchaus hätte der Fall sein können, weil das einzige, was ihm wirklich Spaß machte, der Umgang mit Akten und Statistiken war. »Das erste Mal in meinem ganzen verdammten Leben hatte ich eine Idee. Ich möchte, daß Sie alles heranschaffen und studieren, was wir über Jack Keller haben.«
»Das ist doch der, dessen Ehefrau ermordet wurde, stimmt’s?«
»Genau das ist er«, antwortete sie.
»Wonach suchen Sie?«
»Einbrüche, Diebstähle, Belästigungen, Verhaftungen, egal, was. Gehen Sie so weit zurück, wie Sie können. Irgendwo schlummert da eine Verbindung, und die werde ich finden, und wenn es das letzte ist, was ich in diesem Job tue.« Sie legte den Hörer heftiger auf als beabsichtigt.
McCoy mochte gar nicht, was da vor sich ging. Ihr gefiel auch nicht, was sie im Computer über Grace Childress gefunden hatten.
Am wenigstens gefiel ihr jedoch, daß Jack Keller ebenfalls verschwunden war.
Die Entertainerin tot. Samsonite tot. Und jetzt auch die Totengräberin. Tot.
Der Todesengel – unsichtbar. Nicht existent.
Grace Childress verschwunden. Ganz gleich, ob sie die Novizin oder die Erfüllung war oder gleich beides, sie war verschwunden. Und Jack Keller hatte der Erdboden verschluckt.
Der Sergeant fragte sich, warum zum Teufel das Ergebnis der DNA-Analyse des Vaginalsekrets nicht schon längst vorlag. Sie wollte das Untersuchungsergebnis mit der DNA von Grace Childress vergleichen, die sich bereits in den Akten befand.
Patience McCoy fragte sich, ob Jack wußte, was sie über Kids Lieblingsmitglied seines Teams herausgefunden hatte. Sie fragte sich, ob Jack wußte, daß Grace Childress früher, vor langer Zeit, einen Mord begangen hatte.
Sie konnte es nur inständig hoffen.
Jack brauchte die gesamte dreieinhalbstündige Fahrt, um sich zu sammeln. Und als er das erste Schild sah, das ihm mitteilte, er hätte Charlottesville erreicht, glaubte er, es wäre ihm gelungen. Zumindest wußte er jetzt, was genau er tun mußte. Er beschloß, sich damit zu begnügen.
Er zog es zunächst vor, das Stadtzentrum zu meiden, wußte aber, daß er sich einem Besuch im Jack’s schon bald würde stellen müssen. Das stand jedoch nicht an erster Stelle. Daher fuhr er weiter, direkt zur Sportabteilung der Universität. Als er nach Coach Kampman fragte, wurde er quer über den Campus zum
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