Icarus
gebracht hatte.
Jack ging hin, um auf die Abspieltaste zu drücken, hörte jedoch gleichzeitig ein Geräusch hinter sich. Grace stand in der Türöffnung, die Hände leer, die Schultern herabhängend.
»Was ist mit Ihrem Drink?« fragte er. Aber sie gab keine Antwort. Und als sie hochsah, waren Tränen in ihren Augen. »Möchten Sie reden?« fragte er.
»Nein«, antwortete sie. »Ich möchte nichts trinken, und ich möchte nicht reden.«
»Was wollen Sie dann?« fragte Jack Keller.
»Ich will, daß Sie mir bis morgen früh keine Fragen mehr stellen. Und ich möchte, daß Sie mit mir schlafen«, sagte Grace Childress, »jetzt und sofort.« Und während die Tränen an ihren Wangen herabperlten, fügte sie hinzu: »Bitte!«
Sie beharrte darauf, daß er das Licht löschte. Sie wollte
nicht, daß er sie sah.
»Aber du bist so schön«, sagte er.
Sie küßte ihn und hielt seine Hand ganz fest, als könne allein ihre Kraft ihn davon abhalten, ein Licht auf ihren Körper zu richten. Er unterbrach ihren Kuß, sagte nichts, bewegte sich, wie es ihm erschien, stundenlang nicht, doch es waren wohl nur ein oder zwei Sekunden, die er von ihr getrennt war, in denen er an Caroline dachte und sich nach alldem sehnte, was längst Vergangenheit war. Doch dann umarmte er sie, zog sie an sich, und er küßte sie wieder, ein schneller, kurzer Kuß, dann noch einer, und ein weiterer, dieser lang und süß und voller Leidenschaft.
Sie liebten sich zärtlich und brutal zugleich. Dämonen waren zu vertreiben. Seine kannte er, und er war selig, sie freizugeben. Er wußte nicht, was hinter ihrer Leidenschaft steckte, doch als ihre Körper sich berührten, einander streichelten und sich aufeinanderwarfen, als er ihre Schulter küßte, mit der Zunge ihren muskulösen Rücken liebkoste, sie stöhnen und sogar schreien hörte und spürte, wie sie ihn in sich aufnahm und ihre Beine sich um ihn legten, ihn fesselten, aussaugten, ihn aufpeitschten, war es ihm egal.
Später lagen sie still beieinander in der Dunkelheit. Er konnte ihre weichen, gleichmäßigen Atemzüge hören. Er wurde sich jetzt seiner Nacktheit bewußt und fühlte sich unsicher, schämte sich fast, bis er ihre Hand auf seinem Arm spürte und sämtliche Befangenheit verflog. Er versuchte einmal zu reden, wollte sie fragen, weshalb sie geweint hatte, doch sie legte ihm einen Finger auf die Lippen und bedeutete ihm zu schweigen. Dann schliefen sie ein, ihr Kopf auf seiner Brust, seine Arme um sie gelegt, so sanft wie eine Sommerdecke.
Jack erwachte, atmete den scharfen, wundervollen Geruch nach Sex in seinem Bett und auf seiner Haut und streckte die Hand aus, um den Wecker abzuschalten. Aber der Wecker war gar nicht gestellt, wie ihm bewußt wurde. Schon seit langem nicht mehr. Er stand nicht mehr auf, um zur Arbeit zu gehen. Es gab keine Arbeit. Er brauchte nicht darauf zu achten, seine Ehefrau nicht zu stören. Jemand anders hatte das Bett in der vergangenen Nacht mit ihm geteilt und würde ihm am Morgen Gesellschaft leisten. Das war etwas Neues, und während die Welt ringsum einzustürzen, zu explodieren schien, konnte er nichts anderes tun, als in dieser Welt, die sein Schlafzimmer war, einen kurzen, zufriedenen Seufzer auszustoßen.
Er hob den Kopf, um sich zu vergewissern, daß Grace neben ihm lag, aber sie war nicht da. Er hörte ein Geräusch aus der Küche und aalte sich in dem würzigen Kaffeeduft, der hereinwehte. Jack schwang sich aus dem Bett, begab sich ins Badezimmer, putzte sich die Zähne und duschte schnell und heiß. Dann zog er eine Jeans und ein T-Shirt an und hörte Grace rufen: »Ich weiß, daß du auf bist. Komm nach draußen.«
Sie war auf der Terrasse, saß entspannt und gemütlich in einem der beiden Sessel am Gußeisentisch. Es war ein wundervoller früher Morgen, dessen Frische sich bereits verflüchtigt hatte. Jack gewahrte auf dem Tisch ein Holztablett mit zwei Kaffeetassen, einen Teller mit einem Stück Brot und einen würzigen weißen Cheddarkäse. Es war eine Szene, die er viele Male mit Caroline durchlebt hatte, und er spürte einen unwillkürlichen Stich in seinem Herzen. Aber die Sanftheit und Verletzlichkeit in Graces Augen holten ihn schnell zurück in die Gegenwart. Und der Anblick seines blau-weißen seidenen Hausmantels, der ihren Körper umschmeichelte, dabei aufklaffte und einen Blick auf einen Oberschenkel und die Wölbung ihrer Brüste gestattete, zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht und weckte sofort aufs Neue sein
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