Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
Vom Netzwerk:
Sicheres zu konzentrieren, daher blickte er auf das Tablett. Zuerst nahm er den Gesamteindruck auf, dann erst die Einzelheiten. Die dunkelblaue Farbe der Teller. Die rauhe Kruste des Brotes. Die wächserne Bleiche des Käses. Und dann das Messer. Das wunderschöne Messer mit der sorgfältig geschliffenen Klinge und dem Griff aus dunklem Holz. Das Metzgermesser, das er so gut kannte.
    Doms Messer.
    »Wo …« flüsterte er. »Wo hast du das gefunden?«
    Sie schaute auf das Messer. Sagte: »In der Küche.« Sie nahm es am Griff hoch, hielt es vor sich, so daß die Klinge einen Sonnenstrahl einfing und blitzte. »Es lag auf der Anrichte.«
    »Nein.« Jacks Atem kam in schnellen, harten Stößen. Er konzentrierte sich jetzt auf ihr nacktes Bein, hob den Kopf, so daß er die lange, gezackte Narbe sehen konnte, die von der Mitte von Graces rechtem Oberschenkel bis zur Hüfte verlief.
    Kids Stimme. Ein Unfall … mehr nicht … Aber sie ist noch immer davon gezeichnet. Sexuell gezeichnet.
    »Der Todesengel.«
    »Laß mich erklären.«
    »Du bist der Todesengel«, sagte er. Während er auf das Messer seines Freundes starrte, noch immer gegen die Angst, gegen den Wind, der durch seinen Kopf pfiff, und das Bild von seinem Körper, fliegend, fallend, sterbend, ankämpfte, brüllte er: »Wen hast du noch umgebracht?!«
    »Du mußt mir glauben«, sagte sie. »Es war ein Unfall. Es hat nichts mit heute zu tun, mit dem, was geschieht.«
    »Ich muß von dem Balkon runter«, sagte er.
    »Nein«, erwiderte sie. »Ich weiß, daß du Angst hast. Aber wenn du hier bleibst, hörst du mir zu. Es ist mir gleich, ob ich dich zum Zuhören zwingen muß, aber du hörst jetzt zu.«
    Seine Stimme klang rauh, krächzend. »Ich muß reingehen.«
    Aber sie versperrte die Tür. Er hatte nicht die Kraft, sie beiseite zu schieben. Wenn die Vision kam, wenn die Angst die Oberhand gewann, war keine Kraft mehr in ihm. »Ich war vierzehn«, sagte sie. »Vierzehn Jahre alt. Ein kleines Mädchen, und wollte Cheerleader werden. Und meine beste Freundin, Kara, sie bewarb sich ebenfalls. Und du weißt ja, wie wichtig so etwas für ein kleines Mädchen ist. Nun, am Ende ging es nur noch um Kara und mich, wir erfuhren, daß nur eine von uns es schaffen würde, und wir schlossen einen Pakt, daß wir, ganz gleich, wer von uns gewinnen sollte, für immer die besten Freundinnen bleiben würden. Und …«
    Jack versuchte sich auf das zu konzentrieren, was sie erzählte. Er kämpfte gegen den Terrassenrand, stemmte sich gegen den Sog und versuchte zu verstehen. Grace holte tief Luft. »Und«, fuhr sie fort, »an einem Samstag, zwei Tage bevor wir erfahren sollten, wer von uns beiden es geschafft hätte, waren wir auf Long Island, wo wir damals wohnten …« Die Worte taten ihr weh. Sie kamen sehr langsam. »Wir machten uns heimlich aus dem Staub. Unseren Eltern erzählten wir, wir wollten mit dem Fahrrad zur Bücherei fahren. Statt dessen radelten wir zum Bahnhof und fuhren in die Stadt. Ein letztes Vergnügen, ehe eine von uns das nicht erreichen würde, worum wie beide uns so sehr bemüht hatten.«
    Wovon redete sie? Was hatte das mit dem Messer in ihrer Hand und dem blutüberströmten Körper Samsonites im Bett neben ihm und dem Mädchen mit der Nadel im Arm in der Badewanne zu tun?
    »Nur … ehe der Zug kam«, sagte sie jetzt, »fingen wir an zu schwatzen. Wir alberten herum. Taten so, als würden wir alles versuchen, um zu gewinnen. Die Leute hörten uns, hörten auch, was wir sagten, und es klang schrecklich, aber es war nur ein Scherz, wir alberten wirklich nur herum … Und sie schubste mich, und ich schubste sie. Und wir rangen miteinander …« Grace weinte jetzt. Keine stummen Tränen mehr, sondern es war ein langsames und mühsames Schluchzen. Sie versuchte es zu unterdrücken, daher kamen die Worte nur noch schubweise und abgehackt. »Und«, sagte sie, »o Gott, und ich gab ihr einen Stoß, aber wir standen zu nah an den Gleisen …«
    Ich erinnere mich, dachte Jack. Warum erinnere ich mich? Warum klingt das so vertraut?
    »Sie stürzte genau vor den Zug, als er einfuhr. Ich versuchte sie zu retten, die Leute sahen mich, ich sprang nach unten und versuchte sie hochzuziehen. Aber ich schaffte es nicht, und dann war der Zug da, und ich geriet in Panik. Ich zog mich selbst hoch, und ließ sie im Stich, ließ sie sterben. Ich schaffte es nicht ganz, der Zug erwischte mein Bein, riß es mir beinah ab. Aber ich wurde gerettet. Daher diese Narbe, die mich jeden

Weitere Kostenlose Bücher