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Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
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schlimmsten Alpträumen wähnte: auf dem Rand der Begrenzungsmauer. Achtzehn Stockwerke unter ihm verlief die Madison Avenue. Und kein Netz dazwischen.
    Es war schlimmer als jede Droge. Er konnte die Bilder nicht stoppen, die ihn überfluteten. Und er konnte die Angst nicht vertreiben, die ihn lahmte. Er war wieder zehn Jahre alt, seine Mutter war gefallen. Er hing an Reggie Ivers Bein und baumelte in der siebzehnten Etage. Der Lärm von unten hüllte ihn plötzlich ein: vorbeibrausende Autos, wildes Gehupe, fliegende Händler, die ihre Waren mit rauhen und zornigen Rufen anpriesen. Die Straße raste ihm entgegen, schlängelte und faltete sich wie ein fliegender Teppich aus Beton. Ampeln blinkten hektisch, der Himmel war erfüllt mit glitzernden Explosionen von rot, gelb und grün. Jacks Kopf zuckte nach hinten, er blickte mitten in das brodelnde Gleißen der Sonne und wußte, daß er auf der Mauer stand, daß dies das Ende war. Die Bilder und das Lärminferno verschmolzen zu einer einzigen verwirrenden und würgenden Schwärze, und Jack verlor allmählich das Bewußtsein, während wie durch ein Wunder eine Hand in seinem Rücken ihn auf dem Mauerrand festhielt und in eine aufrechte Position drückte.
    »Los, holen Sie sie«, hörte Jack.
    Einen Moment lang glaubte er aus einem Traum aufzuwachen, aber Bryans Gesicht erschien vor ihm, und Jack sah, daß es kein Traum war. »Jack, bitte«, hörte er Grace erneut rufen. »Ich kann mich nicht mehr lange halten.«
    Während Bryan mit Doms Messer gegen sein Bein stieß und ihn antrieb, drehte Jack den Kopf, so daß er Grace sehen konnte. Sie schwitzte und wirkte wie versteinert, während sie verzweifelt bemüht war, sich an die groteske Skulptur zu klammern. Sie sah ihn jetzt, sagte nichts, doch ihre Blicke trafen sich, und Jack nickte einmal. Er kam.
    Während das Messer sein Bein ritzte, schob Jacks rechter Fuß sich tastend vorwärts. Dann rutschte sein linker Fuß hinterher. Sein erster Schritt. Er hatte sich fünfzehn Zentimeter auf dem Mauerrand vorwärts bewegt. Er verlangsamte seinen Atem, befahl sich, nicht mehr zu zittern. Der rechte Fuß rutschte weiter, dann der linke.
    Dreißig Zentimeter.
    »Jack«, sagte Grace. Ihre Stimme war jetzt ruhig und kontrolliert. Sie verriet nichts von der Dringlichkeit ihrer Worte. »Du mußt dich beeilen. Ich rutsche.«
    Rechter Fuß. Linker Fuß. Vierzig Zentimeter. Und weiter. Fünfzig.
    Er hörte nichts mehr, keinen Laut, nur noch das stetige Hämmern seines Herzens.
    Siebzig Zentimeter.
    Achtzig.
    Er war jetzt einen Meter von der Terrasse entfernt. Das Messer schnitt nicht mehr in seine Beine. Er stand außerhalb Bryans Reichweite.
    Jacks rechter Fuß bewegte sich wieder. Sein linker wollte folgen … und stoppte dann. Lange Sekunden verstrichen, und Jack rührte sich nicht. Er war erstarrt.
    »Jack«, sagte Grace. Das war alles. Es gab nichts mehr, was sie sagen konnte.
    »Nur weiter, Mr. Keller.«
    Keine Reaktion von Jack auf Bryans Worte. Sein Körper war starr. Das einzige Lebenszeichen war das langsame Heben und Senken seiner Brust.
    »Mr. Keller, ich sagte, Sie sollen nicht stehenbleiben. Ich habe nicht viel Zeit. Sie wollen doch wohl nicht, daß ich Sie holen komme.«
    Noch immer nichts. Er war völlig verkrampft.
    »Ich komme jetzt«, kündigte Bryan an. »Und das werden Sie zutiefst bedauern.«
    Bryan legte die Hand auf die Kante und richtete sich langsam auf, um auf die Mauer zu steigen. Er schien nicht die geringste Angst zu haben oder unsicher zu sein.
    Jack drehte den Kopf, es war die erste Bewegung, die er seit über einer Minute machte. Er verfolgte, wie Bryan einen festen Schritt auf ihn zu machte.
    Und er dachte: Jetzt hab ich dich, du Scheißkerl. Jetzt hab ich dich.
    Bryans neuer Plan war simpel. Er wollte Jack Keller so weit hinausgehen lassen, wie er konnte, und ihm dabei zusehen. Er wußte, daß seine Angst ihn überwältigen würde. Er wußte, daß er abstürzen würde, und das wäre es dann. Die Frau konnte sich auch nicht viel länger halten. Sobald jemand begriff, woher die Leichen auf dem Pflaster gekommen waren, war er längst über alle Berge. Und außerdem würden sie ohne fremdes Zutun abstürzen. Er brauchte sie noch nicht einmal anzustoßen. Dann wäre es noch nicht einmal Mord. Er konnte einfach weggehen.
    Und dann wäre es vorbei, ein für allemal.
    Bryan kam gar nicht auf die Idee, daß die Angst seinen Plan vereiteln würde. Starr, wie er war, sah Jack aus, als könnte er ewig dort

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