Icarus
verharren. Und je länger es dauerte, desto größer war die Möglichkeit eines Fehlschlags. Der Schlüssel zum Erfolg war immer Schnelligkeit. Wer hatte das gesagt? Sein Trainer, dachte er. Aber welcher? Dieser Typ in Virginia. Er war ein Blödmann, aber manchmal hatte er auch recht. Und was die Schnelligkeit betraf, hatte er recht. Sie war jetzt entscheidend. Jemand konnte raufkommen, um die Polizistin zu suchen. Vielleicht kam auch eine Putzfrau. Bryan durfte kein Risiko eingehen. Er mußte für ein Ende sorgen.
Er hatte keine Angst, als er auf der schmalen Mauer stand. Höhe machte ihm nichts aus. Er würde nicht abstürzen, niemals. Es war ganz einfach. Nur ein paar Schritte und ein kleiner Stoß. Dann adieu. Wenn es sein mußte, könnte er mit der Frau das gleiche tun. Mit ihr war es genauso einfach. Er brauchte nur ein Stück weiter hinauszugehen, und schon ging es abwärts mit ihr.
Er machte einen ersten Schritt und war überrascht, als Jack sich schließlich rührte. Der Kerl hatte dagestanden wie ein verdammter Steinklotz. Aber jetzt drehte er sich um, und Bryan dachte noch, daß es eine seltsame Bewegung war. Nicht verwirrt und unsicher, wie sie es hätte sein sollen. Sie war eher selbstsicher und kontrolliert. Auf einmal wirkte er gar nicht mehr so gelähmt. Und er konnte sogar reden. Was hatte das zu bedeuten? Was sagte er? Was zum Teufel sagte er?
Es klang wie: »Halte durch, Grace. Halte einfach durch.« Und jetzt sagte er etwas anderes. Was ging hier vor? Diesmal klang es wie: »Wie geht es deinem Knie, Bryan?«
Was? Seinem Knie? Seinem lädierten Knie? Es war so, wie es immer war. Er blickte nach unten, um zu sehen, wovon dieser Heini redete, verdammt noch mal …
Jack erinnerte sich, daß Bryan humpelte, als sie nach dem Mittagessen mit Kid das Restaurant verließen. Er erinnerte sich daran, daß Bryan nach der Beerdigung erzählt hatte, er habe sich an der St. John’s das Knie ruiniert und sein Stipendium verloren. Und vor ein paar Minuten hatte er erwähnt, der Trainer an der Maryland State hätte ihm erklärt, er könne wegen seines Knies nicht mehr spielen. Auch Bryan Bishop hatte eine Schwachstelle. Es wurde Zeit herauszufinden, wie schwach sie war.
Er wartete, bis Bryan nach unten blickte. Jack hatte angenommen, daß Bryans lädiertes Knie das linke wäre, und darauf richtete sich Bryans Blick. Er wartete nicht länger.
Jack holte tief Luft und ließ sich fallen. Er hatte, während er starr dastand, überlegt, wie er am besten die Balance behielt, wenn er sich fallen ließ, und er hatte richtig gedacht. Er ging auf der rechten Seite runter, benutzte beide Hände, um sich festzuhalten, wo immer er konnte, und nicht selbst abzustürzen. Dabei trat er mit dem rechten Fuß zu, so kräftig er es vermochte. Sein Außenrist rammte wuchtig gegen Bryans Knie, und er konnte sehen, wie der Schmerz Bryans dumpfen Gesichtsausdruck regelrecht zerriß. Während Bryan sich krümmte, war Jack schon wieder auf dem Weg nach oben.
Denk nicht nach, sieh nicht hinunter, nur einen halben Meter, und du bist zurück auf der Terrasse. Ein halber Meter, und du hast gewonnen.
Bryan hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Er neigte sich halb zur Seite und ruderte wild mit den Armen, um zu verhindern, daß er von der Mauerkante rutschte und abstürzte. Jack sprang über Bryans zuckenden Körper hinweg. Seine Hände schafften es, seine Brust prallte hart gegen das Mauerwerk, aber sein Kopf war drüber. Er brauchte nur seinen restlichen Körper über die Mauer zu ziehen und stand auf sicherem Grund.
Bryan trat wild um sich. Sein Knie knallte gegen Jacks Oberschenkel, und Jack spürte, wie seine untere Körperhälfte abrutschte, aber seine Finger krallten sich in die Ziegel. Seine Beine baumelten über dem Abgrund. Bryan hatte seinen Fuß gepackt und versuchte, ihn umzudrehen, und Jack merkte, wie sein Griff schwächer wurde. Er wurde wieder nach draußen gezogen. Er war im Begriff zu verlieren. Und wenn er verlor, war er tot.
Du fällst nur, wenn du fallen willst, Jack.
Du fällst nur, wenn du fallen willst.
Ich will nicht fallen, dachte Jack. Ich will nicht fallen. Und er begriff, daß er es nicht nur dachte. Er brüllte es, so laut er konnte: Ich will nicht fallen! Ich werde nicht fallen!
Ich werde nicht fallen!
Er spürte die Anstrengung in seinen Unterarmen, als er zog. Er schüttelte sein Bein frei, noch immer brüllend. Ein Schmerz schnitt durch sein rechtes Bein, wahrscheinlich wieder das Messer.
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