Icarus
Auto?«
»Ich habe mir den Wagen eines Freundes ausgeliehen«, sagte Kid. »Ich bin heute den ganzen Tag ziemlich viel unterwegs, und es ist billiger, als ständig mit dem Taxi zu fahren.« Er griff in die Hosentasche, holte den kleinen, kantigen Fahrstuhlschlüssel hervor und hielt ihn hoch. »Wo soll ich ihn hinlegen?«
»Er gehört Mattie«, meinte Jack zu ihm. »Leg ihn auf das kleine Tischchen, damit ich daran denke, ihn ihr zurückzugeben.«
Kid nickte und plazierte ihn auf dem Beistelltisch in der Diele. »Du siehst heute ganz schön ernst aus.«
»Ich fühle mich heute auch sehr ernst.«
»Zuviel nachzudenken ist schlecht für dich, Jack.«
»Es kommt darauf an, was man denkt, nicht wahr?«
»Oh, richtig. Tut mir leid. Ich nehme an, du hast hier gesessen und dir nur ein paar hübsche Gedanken gemacht.«
»Ich bezahle dich als meinen Physiotherapeuten und nicht als Psychiater.«
»Manchmal geht beides Hand in Hand.«
»Aber diesmal nicht«, stellte Jack fest.
»Okay.« Kid zuckte die Achseln und verkniff sich eine gutgemeinte Warnung vor allzuviel Selbstmitleid. »Dann wollen wir mal zur Sache kommen.«
Während des nächsten Monats lernte Jack, daß seine Schmerzen untrennbar mit der Verbesserung seines Gesundheitszustandes verknüpft waren. Und Kid hatte recht. Er hatte angefangen, die Schmerzen auf eine seltsame und undefinierbare Art und Weise zu genießen. So unerträglich sie auch erschienen, so spürte er doch, wie sie ihn Stück für Stück dem Leben näher brachten.
Kid kam, zuverlässig, wie er war, an fünf Tagen in der Woche. Um sieben Uhr jeden Morgen, und dann verbrachten sie eine Stunde miteinander, manchmal auch zwei, in denen er Jack so heftig antrieb, wie er nur sich selbst würde antreiben lassen. Und dann gab er Jack als Hausaufgabeeine weitere Stunde Übungen, die er allein ausführen mußte. Es war ein Spezialprogramm für den Nachmittag. Weitere Übungen. Mehr Selbstüberwindung. Mehr Schmerzen. Manchmal, wenn er Zeit hatte, kam Kid sogar am Nachmittag zurück, um die zweite Sitzung zu beaufsichtigen. Und oft genug ließ er sich auch am Wochenende blicken und überredete Jack gelegentlich zu einem Zusatz-Training.
Während sie arbeiteten, unterhielten sie sich. Nach und nach gab Kid seine Zurückhaltung auf und begann sich zu öffnen und Jack von seiner Vergangenheit zu erzählen. Er begann auch, Jack an seiner Gegenwart teilhaben zu lassen. Jack wiederum erkannte, wie sehr er den regelmäßigen Kontakt mit Menschen vermißte, an den er im Restaurant gewöhnt gewesen war, und wie sehr es ihm fehlte, sich jeden Tag mit jemandem unterhalten zu können. Die Beziehung, die sie einige Jahre zuvor gehabt hatten, entwickelte sich wieder. Kid begann in Jack wieder den Vater zu sehen, den er schon in jungen Jahren verloren hatte. Und Jack betrachtete Kid genauso wie damals, als er noch ein Teenager war, als seinen Sohn.
Das Eis war zehn Tage später während eines Trainingszyklus endgültig gebrochen.
»Nun komm schon. Streng dich an!« ermahnte Kid ihn. Jack absolvierte gerade sein Hanteltraining mit zwei Pfund schweren Gewichten, die sich anfühlten, als wären sie zweihundert Pfund schwer. »Tut es weh?« fragte Kid.
»Mein Gott, ja.«
»Gut, es soll nämlich weh tun. Das ist nicht deine Verletzung – es ist eine Überraschung . Und jetzt zeig mir mehr!«
»Elf …« keuchte Jack. Und zwang, die Arme zitternd und die Augen geschlossen, seinen Körper, die Übung noch einmal zu wiederholen. »Zwölf …« Und dann wich alle Luft aus ihm. Seine Arme fielen an den Seiten herab, und die Gewichte baumelten in den Händen, bis Kid sie ihm abnahm. Jack saß für eine Minute schwer atmend da, bis Kid ihm eine Wasserflasche reichte, die Jack dankbar an die Lippen setzte. Dann trank er mit tiefen Schlucken.
»Man darf keine Angst vor dem Versagen haben«, sagte Kid. »Das ist das Paradox des Trainings. Du mußt das Versagen als etwas Normales hinnehmen. Du mußt trainieren, bis du versagst. Wenn du nicht versagst, wirst du nicht stark.«
Jack nickte erschöpft. Er hatte es verstanden. Es gefiel ihm nicht, aber er hatte es, verdammt noch mal, verstanden.
Das Mobiltelefon, das an der Schnur um Kids Hals hing, meldete sich mit einem vogelähnlichen Zwitschern.
»Entschuldige«, sagte Kid. Dann redete er leise in die Sprechmuschel des Telefons. Jack hörte nur Kids Teil der Unterhaltung. »Hey … Ja, deshalb habe ich die Nachricht hinterlassen … Es tut mir aufrichtig leid … Ich
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