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Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
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Schimmer hatte – war stufig und kurz geschnitten. Sie hatte die Frisur am Vortag auffrischen lassen. Sie wollte, daß an diesem Abend alles perfekt war. Dieser Abend sollte etwas ganz Besonderes werden.
    Sie schob die Spitze des rechten Schuhs unter ihr Sporttrikot und die Trainingshose und schleuderte beides in die Luft. Sie fing beide Teile geschickt auf, stopfte sie in den Wäschekorb im Dielenwandschrank, kehrte in die Küche zurück und trank zwei Tassen schwarzen Kaffee – warum, fragte sie sich, ergeben vier Tassen Wasser immer nur zweieinhalb Tassen Kaffee? –, während sie den Kunst-und Modeteil der Times las, die täglich von einem Zeitungsboten gebracht wurde.
    Sogar die lange U-Bahnfahrt zur Arbeit war ein Vergnügen gewesen. Ein sehr attraktiver Mann hatte sie während der ganzen Fahrt bewundernd betrachtet. Er war in ihrem Alter, trug teure Designerjeans und ein frisch gebügeltes und gestärktes weißes Oberhemd, und in seinem Blick lag nichts Lüsternes. Er stieg vor ihr aus dem Zug und lächelte ihr zu – es war ein bewunderndes Lächeln – und teilte ihr auf diese Weise mit, daß sie gut aussah und er sich freute über diesen angenehmen Anblick.
    Auch die Arbeit war bisher leicht gewesen. Sie hatte das Geschäft, auf das sie die ganze Woche gehofft hatte, endlich abschließen können. Die Kunden waren unentschlossen gewesen, hatten sich aber am Ende auf ihren Geschmack und ihre Einschätzung verlassen, daß das Stück, das sie kauften, kurzfristig erheblich im Wert steigen würde. Sie war hocherfreut, als sie sich zum Kauf entschlossen, und sie versuchte gar nicht erst, die Freude darüber zu verbergen. Sie schickte eine Flasche Perier Jouet an ihre Adresse mit einer Nachricht, die besagte: »Sie haben die richtige Wahl getroffen. Trinken Sie dies, während Sie sich an Ihrer neuen Erwerbung erfreuen.« Sie wiederum erhielt ein Dutzend Rosen von ihnen – abgeschickt, ehe ihr Geschenk hatte bei ihnen eintreffen können – mit der Nachricht: »Vielen Dank dafür, daß Sie neuen Glanz in unser Leben gebracht haben.«
    Sie nahm gleich um die Ecke ein köstliches kleines Mittagessen ein – Truthahnfleisch auf Schwarzbrot mit Brie und süßem Senf – und danach einen Cappuccino mit aufgeschäumter Milch in einem italienischen Café eine Straße weiter. Es war traurigerweise eines der letzten gemütlichen Lokale in diesem Teil Sohos. Gianni, der sich gewöhnlich mürrisch gebende, um die siebzig Jahre alte Barkeeper, spendierte sogar einen Schokoladenkeks und meinte: »Du siehst wieder mal richtig klasse aus.«
    Erst gegen Abend nahm dieser Traum von einem Tag eine eher unschöne Wendung. Sie telefonierte gerade und tat einem anderen Kunden einen Gefallen, indem sie einem jungen Künstler, der nach einem geeigneten Ort suchte, um seine Bilder auszustellen, einige Ratschläge gab, als sie hörte, wie die Ladentür aufging und er hereinkam. Verwirrt über diesen Besuch, beendete sie jedoch das Gespräch nicht sofort, sondern redete vielleicht noch fünf weitere Minuten mit dem Künstler. Ihr war klar, daß sie ziemlich unhöflich war, aber es war ihr im Grunde gleichgültig, da sie nicht wußte, was sie sonst tun sollte. Dann war alles Nötige besprochen, und sie legte auf, um sich der neuen Situation zu stellen.
    »Ich mußte dich sehen«, sagte er.
    Er sah gut aus. Natürlich, er sah immer gut aus. Aber so, wie er jetzt vor ihr stand, war er nicht mehr zu übertreffen. Enge Jeans zu braunen Westernstiefeln, dazu ein gelbes T-Shirt. Darüber eine leichte beige Wildlederjacke. Das Haar leicht strubbelig. Warum konnte er sein Haar niemals richtig kämmen?
    »Du weißt, daß ich mich immer freue, dich zu sehen. Aber wir haben das alles doch schon ausführlich geklärt«, sagte sie zu ihm.
    »Es ist etwas anderes«, sagte Kid. »Nicht das, was du denkst. Ich muß nur mit dir reden.«
    Sie lächelte. Sie glaubte nicht ganz, daß er nur mit ihr reden wollte.
    Er sah ihr Lächeln und sagte, ohne das Lächeln zu erwidern: »Ich brauche Hilfe.«
    »Welche Art von Hilfe?« fragte sie, und jetzt glaubte sie ihm, denn sie hatte ihn noch nie so ernst gesehen.
    »Können wir uns später treffen? Heute abend?«
    »Ich kann nicht«, sagte sie und fühlte sich dabei, als würde sie lügen, was sie jedoch nicht tat. Der heutige Abend war zu wichtig, und sie konnte nicht so einfach weggehen. Als er sie weiterhin bittend anstarrte, wiederholte sie es und bemühte sich, Gewicht in die Betonung zu legen, damit er

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