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Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
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mehr aufregend war. Irgendwann fühlte sie sich danach einfach nur leer, so wie nach allem anderem.
    Wirklich und wahrhaftig leer.
    Als sie ihren Job antrat, ließ sie nicht zu, daß die Männer sie berührten. Sie spielte mit ihnen. Und flirtete natürlich. Dann hörte das irgendwie auf, die Barriere verschwand, und sie befummelten sie, betatschten sie, atmeten heftig und verdrehten die Augen, als verfielen sie in Krämpfe. An irgendeinem Punkt erkannte sie, daß das Berühren ihr nichts ausmachte. Daher ließ sie es zu. Und während sie sich nachher noch immer traurig und leer fühlte, war es für sie aber auch irgendwie spaßig. Wenn sie sie sah, so hungrig nach ihr, so hungrig nach allem , lachte sie. Manchmal innerlich, manchmal ihnen direkt ins Gesicht. Es schien sie nicht zu stören, dieses Lachen. Solange sie kriegten, was sie wollten. Das war die erste Lektion, die sie während der vergangenen drei Jahre gelernt hatte: Nichts ist von Bedeutung, solange du kriegst, was du willst.
    Sie hatte keine Ahnung, wie lange dieses Leben so weitergehen konnte. Sie befürchtete, daß es irgendwann enden würde, und das eher bald als später. Denn sie wußte etwas. Sie hatte ein Geheimnis. Eine Geheimnis, das ihr Angst machte. Wirklich und wahrhaftig. Es raubte ihr nachts den Schlaf. Und ließ bei ihr manchmal den kalten Schweiß ausbrechen, wenn sie nichts anderes tat, als im Wohnzimmer mit untergeschlagenen Beinen auf ihrer weißen, flauschigen Couch zu sitzen und eine Tasse Tee zu trinken. Sie war sich sicher, daß niemand außer ihr dieses Geheimnis kannte. Sie war sogar sicher, daß niemand auch nur einen Verdacht hatte. Aber es war da, und sie lebte jede Minute damit, bis es größer und größer wurde und sie jede Nacht und jeden Tag bedrängte und ihr Angst einjagte und sie zum Schwitzen brachte.
    O ja, sie war hübsch.
    Aber sie war nicht hübsch genug .
    Ihre Nase war zu groß und leicht zur Seite gebogen. Ihre Zähne waren makellos, weiß und gleichmäßig, aber ihr Zahnfleisch war zu auffällig. Wenn sie die Lippen schürzte, war viel zuviel von ihrem rosigen Zahnfleisch zu sehen, und das haßte sie. Deshalb lächelte sie nur selten.
    Auch von ihrer Haut war sie nicht gerade begeistert. Sie war trocken, ganz gleich, wieviel an teurer Feuchtigkeitscreme sie auftrug, und sie war alles andere als glatt. Da waren Fehler, kleine Unebenheiten und Haare. Wenn sie die im grellen Licht ihres Schminkspiegels betrachtete, wurde ihr manchmal richtiggehend übel. Sie starrte fünf, zehn Minuten lang auf die vergrößerten Mängel ihrer Haut, manchmal sogar eine halbe Stunde lang, und dann bekam sie Magenschmerzen, und sie mußte sich hinlegen. Und wenn sie sich hinlegte, dann dachte sie an ihre Hüften und daran, daß sie viel zu breit waren, wirklich und wahrhaftig zu breit. Oh, im Augenblick konnte niemand eine zuverlässige Voraussage treffen, aber sie wußte, was in zehn Jahren sein würde. Es mochte einem erscheinen wie eine Ewigkeit, aber es war bereits drei Jahre her, seit sie nach New York gekommen war, und diese Zeit war wie im Flug verstrichen. Es kam ihr fast vor wie gestern. Daher wußte sie, daß ihre Hüften mit jedem Moment breiter und ihre Trizeps schlaffer würden und sie die Figur ihrer Mutter bekommen würde, und sobald das geschah, würden die Männer sie nicht mehr lieben, sie würden sie verlassen, genau, wie sie ihre Mutter verlassen hatten.
    Nein. Sie durfte es nicht so weit kommen lassen. Sobald das geschähe, würde sich auch alles andere ändern. Im Augenblick war es ihr Geheimnis. Niemand sonst wußte, was geschah, wenn sie älter wurde. Genauso ahnte niemand, wie sie vorher gewesen war. Sie sahen nur, wie sie jetzt war. Mui mui bonita mit einem perfekten Körper und kleinen chichis , die noch immer durch und durch ihre eigenen waren.
    Dann bekam sie heraus, daß ein anderer es wußte. Nur ein einziger. Sie hatte ihm von ihrer Vergangenheit erzählt, von ihrem Vater und davon, wie er sich nachts in ihr Zimmer schlich. Über die Scheidung ihrer Eltern und ihren Stiefvater und die religiöse Konvertierung ihrer Mutter und über den Selbstmord ihrer Schwester und die Trunksucht ihrer anderen Schwester. Ja, sie selbst war es gewesen, die ihm enthüllt hatte, was sie gewesen war. Aber er hatte sich selbst ausgerechnet, was sie irgendwann sein würde. Irgendwie hatte er es erkannt. Hatte sie beobachtet, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete. Und als sie sich umdrehte und erkannte, daß er

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