Icarus
»Fangen Sie ja nicht an zu schreien und alles durcheinanderzubringen«, sagte sie.
»Es ist schon gut, Mattie«, versuchte Jack sie zu beruhigen.
»Ich will nicht, daß er Sie anschreit. Und ich will nicht, daß er Ihnen noch mehr weh tut, als Ihnen schon weh getan wurde.« Sie sah Kid wieder an. »Haben Sie das verstanden?«
»Ja«, sagte Kid, und seine Stimme klang völlig kraftlos.
»Sie haben ihm schon einmal weh getan. Und das tun Sie nie wieder.«
»Sie haben recht. Es tut mir leid.«
Sie blieb mit finsterer Miene in der Türöffnung stehen, bis Jack sagte: »Es ist wirklich alles okay. Ehrlich.«
Mattie nickte, zufrieden, daß sie eingeschritten war, machte kehrt und verschwand in der Küche. Im Raum herrschte einen Moment lang verlegenes Schweigen, bis Kid meinte: »Sie beschützt dich.«
»Ja.«
»Nun, das ist gut so.«
»Ob gut oder nicht, ich bin froh, daß sie es tut.«
Kid räusperte sich und klopfte erneut auf seine Tabelle. »Okay, wir werden ab jetzt viermal in der Woche nach diesem Plan vorgehen …«
Jack runzelte die Stirn und überflog die Tabelle in Kids Hand. Er sah eine ganze Reihe von Spalten, die alle säuberlich von einem Computer ausgedruckt worden waren. Die Übungen waren unmöglich. Kid wollte, daß er Dinge tat, zu denen er gar nicht fähig war.
»Du machst wohl Witze, was?« fragte er Kid. »Du willst, daß ich laufe?«
»Bis morgen werden wir das nicht schaffen, Jack. Aber in einem Jahr, ja, ich glaube, dann schaffst du das alles. Und du brauchst keine Meile in zehn Minuten zu laufen. Wir können mit fünfzehn Minuten anfangen. Oder zwanzig. Ich will nur, daß du auf das Laufband gehst und …«
»Du hast völlig den Verstand verloren.«
»Wann lernst du endlich, mir zu vertrauen?«
»Ich vertraue dir.«
»Das tust du nicht.« In Kids Stimme schwang kein Zorn mit, nur eine ruhige Entschlossenheit, die genauso stark und unbeugsam war wie an dem Tag, als er zum erstenmal erschienen war und Jack aufgefordert hatte, wieder auf die Beine zu kommen und gegen die Schmerzen anzukämpfen. »Ich meine es ernst. Wie kannst du mir nicht glauben, wenn ich sage, daß du irgend etwas wirst tun können? Wie kannst du mir nach alldem nicht vertrauen?«
Jack brauchte lange, um darauf zu antworten. »Kid, um ganz ehrlich zu sein, ich glaube, mir wurde jegliches Vertrauen rausgeschossen und weggeschnitten.«
Jack konnte an seiner Miene erkennen, wie verletzt er war. Aber Kid nickte nur und sagte: »Okay, möchtest du es mit dem Laufband nicht wenigstens mal versuchen? Ich verspreche dir, daß wir ganz langsam anfangen. Du brauchst nur zu sagen, wann es weh tut, und ich halte es sofort an.«
Jack sagte nichts. Aber er betrat das Laufband und begann, während Kid auf den Startknopf drückte, zu gehen, zuerst langsam, dann zunehmend schneller, bis er in einen leichten Trab verfiel. Er wartete darauf, daß der Schmerz in seiner Hüfte explodierte, aber das geschah nicht. Der Schmerz war da, aber nicht explosionsartig, sondern eher wie eine Woge, und für einen kurzen Moment geriet er aus dem Tritt. Aber er sah, wie Kid ihn beobachtete, und er dachte, daß er gegen diesen speziellen Schmerz durchaus anlaufen konnte. Er wußte, daß der nächste und der übernächste Tag die reine Qual würden. Aber das war okay. Er war dazu fähig. Er lief. Es war der langsamste verdammte Lauf der Geschichte, aber er lief …
»Ich habe jemanden kennengelernt«, sagte Kid leise. »Es war ziemlich intensiv.«
»Eine neue Erfüllung?«
»Das ist der perfekte Spitzname für sie«, sagte Kid. »Und zwar in jeder Hinsicht.«
»Herzlichen Glückwunsch.«
»Außer … Sie hat so etwas an sich … Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll …«
»Ist sie auch jemand, der dir Angst macht?«
Kid gab sich alle Mühe, ein Lächeln zustande zu bringen, aber ihm gelang nur ein halbherziges, resignierendes Achselzucken. »Jack«, sagte er, »im Augenblick macht mir jede, die ich kenne, Angst. Diese eine … die neue Erfüllung … Ich glaube nicht, daß sie das ist, wofür ich sie gehalten habe.«
»Möchtest du mir erzählen, was passiert ist«, meinte Jack, »oder sollen wir uns weiter in Rätseln unterhalten?«
»Ich möchte.« Kid nickte, als hätte er eine Entscheidung getroffen. »Ich werde es tun. Bald. Es gibt vieles, das ich jetzt verstehe, aber ich muß mir noch über ein paar andere Dinge klarwerden. Danach erzähle ich dir alles.«
»Schön. Kann ich inzwischen mit dem Laufen aufhören? Ich
Weitere Kostenlose Bücher