Icarus
Er biß sich auf die Unterlippe. »Ich brauche ein wenig Zeit, um alles auf die Reihe zu kriegen. Ein paar Wochen mindestens, vielleicht einen Monat.«
»Bring ihn mir, wenn du fertig bist. Und wann immer du es für richtig hältst. Ich werde ihn ernst nehmen und ehrlich und ganz offen sein. Wie findest du das?«
»Das ist gut«, sagte Kid. »Wirklich gut.« Er zögerte. »Und es geht nicht nur um mich, mußt du wissen. Es geht auch um meinen Freund, Bryan. Du erinnerst dich doch noch an Bryan? Damals, als wir noch Kinder waren?«
»Dieser große Kerl. Dein Schatten.«
»Ja. Jetzt ist er ein wenig kleiner, seitdem er die Steroide abgesetzt hat.«
»Ein verdammt guter Blocker, soweit ich weiß.«
»Nun …« Kid wurde wieder zappelig. »Vielleicht kann ich ihn mitbringen. Ich meine, nachdem du den Plan kennengelernt hast. Zu einer Besprechung.«
»Du kannst mitbringen, wen du willst«, sagte Jack. »Ich würde mich freuen, ihn wiederzusehen. Dann ist es wie in alten Zeiten, ihr beide futtert für zehn, und ich bezahle. Solange ich ganz ehrlich sein kann. Und genauso offen.«
Kid schien erleichtert. »Ja«, sagte er. »Das ist prima. Das ist absolut perfekt.« Er atmete jetzt mehrmals tief durch, nickte zweimal stumm vor sich hin, und Jack glaubte, daß er sich allmählich beruhigte. Kid wandte sich jetzt von Jack ab, stand dicht an der Begrenzungsmauer am Ende der Terrasse und schien irgend etwas neugierig zu betrachten. Während Kid dichter an die Kante herantrat, spürte Jack, wie sich sein Magen verkrampfte. »Hey«, sagte Kid. »Weißt du, daß man von hier mit einem Schritt praktisch zum benachbarten Gebäude rübergehen kann?«
»Nein«, erwiderte Jack. Er hatte keine Ahnung, ob Kid es hören konnte, aber in seiner Stimme lag ein deutliches Zittern. Während Kid sich vorbeugte, um über die Mauer zu blicken, war Jacks Kehle plötzlich wie zugeschnürt. »Ich habe nie …«
»Ernsthaft. Die Gebäude sind miteinander verbunden. Man kann auf diesem Sims entlanggehen und auf das Dach da drüben gelangen. Man müßte zwar ziemlich bescheuert sein, aber …«
»Kid …« Jacks Mund war plötzlich völlig ausgetrocknet. Das Bild vor ihm – wie Kid an der Mauer stand und sich darüberbeugte – begann zu verschwimmen und zu flimmern wie ein Fernsehapparat mit schlechtem Empfang.
»Und diese Wasserspeier. Unglaublich. Diese Schätzchen können einem wirklich Angst einjagen. Ich hab sie bisher noch nicht bemerkt! Mein Gott, sind die groß.«
»Kid …«
Und dann geschah es. Kid machte einen weiteren Schritt auf die Mauer zu und stand nach einem plötzlichen, eleganten Sprung auf ihrer Krone.
Jack schrie auf.
Oder er dachte wenigstens, daß er es tat. Er versuchte zu schreien, aber kein Laut drang aus seiner Kehle. Er sah Kid auf der Mauer stehen, dicht am Abgrund, und seine Beine gaben nach. Er wollte etwas rufen, aber er schaffte es nicht. Es war, als drücke sich eine Hand auf seinen Mund. Er blickte zum Himmel und sah die grelle Sonne, nur drehte sie sich, wanderte zur Seite, wirbelte um die Wolken und wurde immer heller, bis alles in einem Meer aus Weiß versank. Und er sah eine Gestalt – er wußte, daß sie nicht real war, nicht real sein konnte – aber er sah sie trotzdem: Ein Junge mit gefiederten Schwingen, der zur Sonne flog, dann nach unten sackte, taumelte, mit den Händen flatterte, um sich in der Luft zu halten, jedoch fiel. Immer schneller. Abstürzte …
Jack spürte, wie er würgte, erfolglos nach Luft rang, und er erinnerte sich … Schau nach unten … Einfach nach unten … Pack irgendwas … halte dich an irgendwas fest und schau nach unten …
Jack klammerte sich an die Bank, auf die er gesunken war, zwang sich, auf den Boden der Terrasse zu starren. Dann schloß er die Augen und wartete darauf, daß die Benommenheit verflog, das Würgen aufhörte und die Panik verging.
Er hörte Kids Stimme, die seinen Namen rief. Jack atmete tief ein, dann ein zweites Mal und ein drittes Mal. Ohne aufzuschauen, ohne die Augen zu öffnen, versuchte er zu reden, glaubte nicht, daß er es schaffen würde, war über alle Maßen überrascht, als er vernahm, wie die Worte in seinem Kopf aus seinem Mund kamen.
»Runter …« keuchte er. »Komm runter …«
Die Augen noch immer geschlossen, hörte er Kids Stimme, völlig ruhig und gelassen. »Jack«, sagte er. »Jack, es ist okay.«
Jack schlug die Augen auf. Die Benommenheit war verschwunden. Aber er schaute nicht hoch. Sein Geist führte ihn,
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