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Icarus

Icarus

Titel: Icarus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Russell Andrews
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ohne daß er etwas sah, zur Mauerkrone, und er stellte sich Kid vor, wie er dort stand und auf die Stadt hinunterblickte und nicht verhindern konnte, daß er abstürzte, und Jack glaubte, er müßte sich jeden Moment übergeben. Er schloß wieder die Augen, versuchte, das Bild aus seinem Bewußtsein zu verdrängen, das Bild von Kid, wie er im freien Fall durch die Luft wirbelte, abwärts … abwärts … Und dann war es nicht mehr Kid, der abstürzte, sondern Jack. In dem Bild waren seine Augen geöffnet, und er schrie, aber es war nichts zu sehen, und kein Laut war zu hören …
    »Jack.« Kids Stimme. »Mach die Augen auf.«
    Jack rührte sich nicht.
    »Nichts passiert, Jack. Ich stürze nicht ab.«
    Jacks Augen öffneten sich zuckend. Aber er rührte sich nicht. Und blickte nicht hoch.
    »Du fällst nur, wenn du fallen willst«, sagte Kid. »Bitte. Mach die Augen auf und sieh hin.«
    Jack atmete langsam ein. Er wußte, daß es töricht war, er fühlte sich schwach und dumm. Aber sein Gehirn hatte keine Kontrolle über das, was er fühlte. Das war reiner Terror, eine unkontrollierbare Phobie. Die Vorstellung, so nahe an der Kante …
    »Du fällst nur, wenn du fallen willst, Jack. Bitte. Schau einfach hin.«
    Jack atmete aus. Er hatte das Gefühl, als hätte er den Atem für eine Ewigkeit angehalten. Langsam hob er den Kopf. Kid stand auf der Terrassenmauer und sah Jack an. Er wandte dem Park, der Stadt und der Straße tief unten den Rücken zu. Jack zitterte und zwang sich, nicht wegzuschauen. Er konnte den Himmel im Hintergrund sehen, das Blau und die weißen Wolken, Kid als Silhouette vor dem fernen Grün des Parks und den braunen Dächern der Gebäude auf der West Side. Jacks Hände zitterten. Und sein rechter Fuß schlug hektisch auf den Boden.
    »Es tut mir leid. Ich habe nicht nachgedacht. Ich hatte … es vergessen. Aber ich habe keine Höhenangst, Jack. Das hier macht mir nichts aus.«
    Jacks Stimme klang dünn, als läge er im Fieber, als hätte irgendeine tödliche Krankheit seinen Körper geschwächt, ihn jeglicher Kontrolle über seine Muskeln beraubt. »Komm jetzt runter, Kid … Bitte komm runter.«
    Diesmal gehorchte Kid. Er sprang von der Mauer herab und stand wieder sicher auf der Terrasse. Er kam zu Jack herüber, und sobald er von der Kante weit genug entfernt war, entspannte Jacks Körper sich. Der Schweiß an seinem Hals wurde kalt, und er wischte ihn ab. Sein Fuß kam zur Ruhe, und das Zittern seiner Hände verschwand.
    »Es tut mir leid«, sagte Kid wieder. »Mir war nicht klar … Ich wußte nicht, daß es so schlimm ist.«
    »Ich komme mir vor wie ein Idiot«, sagte Jack. »Mein Gott. Aber ich kann nichts dafür.«
    »Ich habe nicht geglaubt … es macht mir absolut nichts aus. Mir gefällt es da oben. Ich liebe es, hinunterzublikken.«
    »Kid«, sagte Jack, und seine Stimme bebte noch immer. »Du hast gesagt: ›Man fällt nur, wenn man fallen will.‹«
    »Ja.« Kid nickte. »Wenn man allein ist. Wenn niemand da ist, der einen hinunterstößt. Das ist richtig.«
    »Nun, genau das macht mir Angst. Wenn ich an die Kante gerate, wenn irgendwer an die Kante tritt, dann sehe ich mich selbst … ich fühle es nicht nur, ich sehe es … wie ich abstürze. Ich kann es nicht aufhalten, es ist, als würde mich ein Magnet dorthin ziehen, ich kippe und sehe mich fallen …«
    »Es tut mir leid, Jack. Ich habe das nicht gewußt.«
    »Es ist schon okay.« Ein weiterer tiefer Atemzug. »Ich bin wieder in Ordnung.«
    »Soll ich dir etwas zu trinken holen?«
    »Nein«, sagte Jack. Jetzt zwang er sich aufzustehen. Er schaffte es, war aber noch nicht wieder im Vollbesitz seiner Kraft. »Laß uns reingehen.«
    Kid ergriff seinen Arm und öffnete die Schiebetür, die ins Wohnzimmer führte.
    »Man fällt nur, wenn man fallen will«, wiederholte Jack langsam. »Denkst du das wirklich?«
    »Ja«, erwiderte Kid. »Das denke ich wirklich.«
    »Ich will nicht fallen«, meinte Jack. »Wirklich nicht. Aber ich glaube, ich kann es nicht verhindern.«

Vierundzwanzig
    S AMSONITE
    Wie war das möglich?
    War dieser Plan nicht brillant? Sie war sich dessen so sicher .
    Er war so verdammt simpel und so verdammt brillant gewesen.
    Sie war erstaunt, daß sie so verdammt clever war, sich etwas auszudenken, das so verdammt simpel und brillant schien.
    Selbst jetzt staunte sie noch. Es war ein verdammt brillanter Plan, mehr nicht.
    Nur funktionierte er nicht. Was für ein gottverdammter Mist.
    Tja. Der ganze Tag war so

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