Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Körper verlässt?«
»Ich schwöre es.«
Ihr war, als vernähme sie den Klang einer Glocke, aber sie hörte ihn nicht mit den Ohren. Sie hörte ihn in ihrem gesamten Inneren, so als würde er in ihrem Brustkorb widerhallen. Ihre Knie wurden weich wie Gummi.
»Hab keine Angst«, sagte er sanft. »Solange diese Mauern stehen, wird dir hier nichts Böses widerfahren.«
Mit geschlossenen Augen versuchte Cassie zu atmen. Sie hatte das Gefühl, als wäre nicht genug Sauerstoff in der Luft.
»Komm«, sagte er.
Sie öffnete die Augen und sah, wie der Bär die funkelnde Halle durchquerte. Eine Sekunde lang stand sie wie versteinert. Dann blickte sie über ihre Schulter noch einmal zurück auf die Welt da draußen, holte tief Luft und folgte ihm.
Der Gang weitete sich und mündete in einen leuchtend goldenen Bankettsaal, dessen facettierte Wände im Kerzenlicht der Kronleuchter dermaßen hell erstrahlten, dass Cassie Funken sprühen sah, wenn sie blinzelte. Die durchscheinende Decke des Raumes wölbte sich hoch empor wie die einer Kathedrale. Sie leuchtete im einfallenden Licht wie vielfarbiges, kostbares Bleiglas. Staunend blickte Cassie sich um. Wände und Decken waren mit fein gearbeiteten Vögeln und anderen Tieren verziert. Streben ragten auf, Gewölbebögen schwangen sich über Statuen hinweg. Eine Festtafel erstreckte sich über die ganze Länge der Halle. An ihren Enden standen, Thronen gleich, zwei prächtige Eisstühle. Es sah aus wie … Cassie versuchte, diesen Ort mit irgendetwas zu vergleichen, das sie kannte – und konnte es nicht. Es war, als wären an diesem Ort jeder einzelne herrliche Lichtstrahl und jede wunderschöne Eisform, die sie jemals gesehen hatte, um sie versammelt.
»Wir haben eine lange Reise hinter uns«, sagte der Bär, der plötzlich hinter ihr stand. Erschreckt fuhr Cassie herum. »Du musst hungrig sein.«
Sie wandte sich wieder der Halle zu. Der riesige Tisch, der in stiller Pracht gewartet hatte, präsentierte sich nun über und über mit Speisen beladen. Kaskaden von Obst ergossen sich aus kristallenen Eisschüsseln. Von blau-weißen Tellern stieg Dampf auf. Brot war zu Pyramiden aufgetürmt. Cassie roch den köstlichen Duft zahlloser Gewürze. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie. Weder Kellner noch Köche waren zu sehen – hier war nichts, was das plötzliche Erscheinen eines Festmahls hätte erklären können.
»Das sind Speisen«, sagte der Eisbär freundlich, »wie du sie isst.«
Als wollte er ihr zeigen, wie das ging, verschlang er einen ganzen Laib Brot auf einmal. Sie schüttelte den Kopf. Dieser Vorgang passte so gar nicht zu seiner grimmigen Erscheinung. »Bären essen kein Brot«, sagte sie. »Du bist ein Fleischfresser.«
»Wir haben alle unsere Schwächen«, gab er zurück.
War das ein Witz? Besaß er so etwas wie Humor? Sie starrte ihn an. »Das kann nicht real sein.«
Er deutete mit der Schnauze auf einen der Throne. »Bitte sehr! Das ist deiner.«
Er trat ein paar Schritte zurück und gab ihr den Weg zu einem der Stühle frei. Ihrem Thron. Sie zog Handschuhe und Fäustlinge aus und berührte die gedrechselten Armlehnen aus Eis. »Er ist nicht kalt«, sagte sie. Sie befand sich in einem Schloss aus Eis. Entweder sollte ihr kalt sein, oder das Eis sollte schmelzen. Tatsächlich war ihr jedoch so warm, als befände sie sich im Inneren der Forschungsstation. »Es tropft nicht mal.«
»Es kann nicht schmelzen«, sagte er. »Nicht, solange ich hier bin. Ich lasse nicht zu, dass es schmilzt.«
Ruckartig riss sie ihre Hand zurück. »Was meinst du mit ›nicht zulassen‹? Eis fragt doch nicht um Erlaubnis.«
»Das gehört dazu, wenn man ein Munaqsri ist«, sagte er.
»Muu-naaks-rii«, wiederholte sie. Es klang wie ein Inupiag-Wort.
»Ja.«
»Ist das dein Ausdruck für ›sprechender Bär‹?«, fragte sie.
»Es bedeutet ›Hüter‹«, gab er zurück. »Wir sind die Bewahrer der Seelen. Jedes lebende Wesen braucht eine Seele, und jedes, das stirbt, lässt eine zurück. Die Munaqsri nehmen sich der Seelen an und übertragen sie.«
Wieder starrte Cassie ihn lange an.
»Die Fähigkeit, Moleküle zu verändern. Das ist eine der ›Kräfte‹ – ich habe kein besseres Wort dafür –, die die Natur uns gegeben hat, damit wir unsere Aufgabe erfüllen können«, erklärte er. »Draußen auf dem Eis benutze ich sie, um meine Bären zu erreichen. Hier drin verwende ich sie, um mein Heim zu gestalten, das Essen auf diesem Tisch, die Wärme in deinem
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