Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
hingekritzelt: »Lomonossow Ridge, 89° N«. Sie konnte sich noch gut an die Stelle erinnern: das wilde Durcheinander haushoher Eisblöcke, den unendlichen Himmel, die brennende Kälte. »Oh, Bär, was machst du jetzt gerade?«
Sie warf eine zusammengerollte Socke Richtung Lichtschalter, wo sie wirkungslos abprallte. Mit der dritten klappte es endlich. Im Dunkeln vermisste sie Bär noch viel mehr. Eigentlich sollte das nicht so sein. Sie war jetzt zu Hause, hatte ihr Leben zurück und ihre Mutter noch dazu. Wieso also war sie nicht glücklich?
Während Cassie sich unter ihrer Bettdecke unruhig von einer Seite auf die andere wälzte, wanderten ihre Gedanken zu dem Leben im Schloss, dessen sie niemals überdrüssig geworden war. Sie dachte an die Nachmittage, die sie mit Bär zusammen im Eisgarten verbracht hatte, an die Abende, an denen sie Schach gespielt hatten (auch wenn Bär drei von vier Partien gewann, weil Cassie niemals Plan B im Kopf hatte). Daran, wie sie spätnachts im Dunkeln heiße Schokolade getrunken und er Geschichten nur für sie erfunden hatte. Sie erinnerte sich daran, wie er das erste Mal gelacht hatte, als sie das Treppengeländer hinuntergerutscht war, und wie er über das erste totgeborene Bärenkind geweint hatte. Wie viele solcher Totgeburten hatte er inzwischen verkraften müssen, und dazu noch ganz allein? Wenn sie doch nur einen Weg finden könnte, um beides zu haben – mit ihm zusammen sein und den Eisbären helfen.
Cassie fuhr hoch – eine Idee braute sich in ihr zusammen. Sie konnte es deutlich spüren. Bär verpasste Geburten, weil er nicht wusste, wo und wann genau sie stattfinden würden. Sie dagegen hatte Zugriff auf die genauen Daten Hunderter trächtiger Bärinnen. Cassie warf ihre Bettdecke beiseite und rannte, so schnell sie konnte, in Owens Arbeitsraum. Dort angekommen, kletterte sie über Berge von Kisten und Maschinenteilen und arbeitete sich zu dem neuen Computer vor. Sie riss die Schutzhülle herunter und drückte den Einschaltknopf. Unruhig lief sie auf und ab, während das Gerät startete. Geburten fanden nicht zufällig statt. Sie ließen sich voraussagen – zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit. Cassie setzte sich auf den Schreibtischstuhl und öffnete den Ordner mit den Daten für die trächtigen Weibchen.
»Lass mich das machen«, sagte plötzlich eine Stimme.
Cassie fuhr zusammen. Owen stand direkt neben ihr. Wie um alles in der Welt hatte er sie von den Schlafräumen aus gehört? »Hast du etwa ein Babyfon an diesem Ding?«
»Naja, du schwebst nicht gerade über den Boden wie eine Elfe.«
Sie machte ihm den Stuhl frei. »Bitte schön.« Er setzte sich, und sie sah ihm über die Schulter. »Ich möchte auf dem Arbeitsblatt mit den Daten für die Geburtshöhlen eine Extraspalte haben.« Owen fügte eine Spalte ein. »Hm. Okay. Jetzt gibst du eine Formel ein, die zum vorhandenen Datum für den Bezug der Höhle zwei Monate hinzuaddiert. Das ist ungefähr der Zeitraum bis zum Ende der Tragzeit.« Er tat es. »Kannst du die Seite ausdrucken?«, fragte sie.
»Schon in Arbeit.«
Der Drucker surrte, und Cassie beugte sich über das Gerät. »Das dauert aber.«
»Tintenstrahl. Finger weg!«
»Du denkst immer noch, ich kriege alles kaputt, stimmt’s?«
Owen zuckte mit den Schultern.
»Ich bin doch kein Trampel.«
»Aber leicht erregbar.«
Sie riss das Blatt aus dem Drucker, bevor er fertig war, und verschmierte die Tinte. Unruhig hin- und herlaufend überprüfte sie alles. »Markiere die Spalte ›Voraussichtliche Geburt‹ und sortiere die Daten nach Datum und Ort. Datum zuerst. Bitte.«
Owen nahm die Änderungen vor und druckte alles noch einmal aus. Cassie schnappte sich die Blätter, hockte sich damit auf einen Stuhl, kaute auf ihrer Unterlippe und las. Konnte das funktionieren?
Owen räusperte sich. »Soweit ich weiß, deckt unser Fördergeld die Vorhersage von Geburten nicht ab«, sagte er. »Naja, letztendlich muss das dein Vater entscheiden. Aber ich bezweifle, dass wir an den Grundprämissen jetzt noch was ändern können.«
»Hm, hm.« Sie hörte kaum, was er sagte. Zwar gab es einige Überschneidungen bei Daten für weit auseinanderliegende Orte, aber ganz unmöglich schien es nicht zu sein. Wenn er eine Route nähme, die von der Hudson Bay weiter führte nach … Es wäre eine echte Herausforderung, die Route zu bestimmen und immer auf dem aktuellsten Stand zu halten, neue Informationen einzurechnen, während er bereits unterwegs war.
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