Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
Greenhorn, dieser Cheechako , der gar nicht zur Familie gehörte und einen Eisbären noch nicht mal im Zoo finden würde? Mit dem war sie ein Herz und eine Seele. Cassie rührte in ihren Bohnen herum. Sie hatte überhaupt keinen Hunger.
Jeremy fuchtelte mit seinem Löffel. »Lass dir das gesagt sein: Die Hölle besteht aus Eis. Ich hätte mir niemals Polarforschung aussuchen dürfen. Aber ich bin Manns genug, die Dinge zu ändern.«
Cassie suchte nach einem unverfänglichen Thema. »Also, wie geht es den Bären?«
Scotts Miene hellte sich auf. »Wir haben hundertsechsundzwanzig markiert. Zweiunddreißig mehr als die vom NPI .« Das National Polar Institute befand sich hundertfünfzig Meilen westlich von ihnen, nahe Prudhoe Bay, und war ihr ärgster Konkurrent. »Ein Glück, dass wir keine Erbsenzähler sind«, warf Max ein, während er sich hinsetzte und sich Reis und Bohnen nahm.
»Natürlich nicht«, entgegnete Cassie. »Bist du nur zu Besuch oder wieder Besatzungsmitglied?«
Max’ Grinsen verbreiterte sich noch. »Wir haben den Zuschuss bekommen. Reicht für zwei Jahre.«
»Wir müssen ihn uns mit dem NPI und den Jungs in der Tschuktschen-See teilen«, meinte Liam. »Aber Max ist wieder im Team, und Owen hat endlich eine bessere Ausstattung bekommen – brandneue Computer. Voll schick.«
Max war zurück! Sie hatten den Zuschuss bekommen! Und Cassie hatte das alles verpasst. »Das ist ja wunderbar!«, sagte sie so begeistert, wie es irgend ging. Das waren wirklich gute Neuigkeiten. Jahrelang hatte sie sich gewünscht, Max käme zurück. Sie lachte ihren früheren Babysitter an. »Wofür ist der Zuschuss?«
»Verhalten in den Geburtshöhlen«, beantwortete ihr Vater die Frage. »Alle fünf Eisbären-Nationen sind beteiligt, aber bei uns werden die Daten zusammenlaufen.«
»Laszlo hat uns so lange ins Eis rausgeschickt, um in den Geburtshöhlen rumzuschnüffeln, bis wir Max zurückbekommen haben. Mit Stirnlampen und so. Wäre genau dein Ding gewesen, Kleine«, sagte Scott. »Tut mir echt leid, dass du das verpasst hast.« Ihr tat es auch leid.
Jeremy schüttelte sich. »Was für ein Wahnsinn. Der blanke Selbstmord.«
»Immerhin bist du nicht gefressen worden«, warf Dad ein.
»Pures Glück«, meinte Jeremy. »Ich bin froh, dass wir damit fertig sind.«
All das hatte sie verpasst. Na, nun war sie ja zurück, und sie würde nie wieder etwas verpassen. Im Augenwinkel sah Cassie, wie Gail sich hinsetzte und eine Serviette in ihrem Schoß ausbreitete. Ich bin wieder zu Hause, dachte sie. Und hier werde ich auch bleiben.
Cassie fuhr aus dem Schlaf hoch. Was zur Hölle war das? »Bär?« Eine Frau schrie. Cassie brauchte ein paar Sekunden, bis ihr wieder einfiel, wo sie war. Und noch ein paar Sekunden, bis sie sich daran erinnerte, welche Frau sich außer ihr selbst noch auf der Station befand.
Es war ihre Mutter, die da schrie.
Cassie warf ihre Bettdecke beiseite und stürmte aus dem Zimmer. Gerade als sie vor der Tür zum Zimmer ihres Vaters ankam, gingen die Schreie in Schluchzen über. »Ist ja gut«, hörte sie ihren Vater sagen. »Du bist ja hier. Du bist frei. Es ist vorbei. Alles ist gut. Sie werden dich nicht noch einmal holen.«
»Das weißt du nicht.« Die Stimme ihrer Mutter, gebrochen.
Cassie stieß die Tür auf. »Mom? Gail?« Sie blieb auf der Schwelle stehen. Ihre Mutter lag an der Schulter ihres Vaters und weinte.
Dad hob den Kopf. Auf seinem Gesicht lag ein so unverhohlen leidender Ausdruck, dass Cassie wegsehen musste. »Albtraum«, erklärte er. »Ist gleich vorbei. Geh wieder ins Bett!«
Cassie wandte sich zum Gehen. Sie wollte auch weg, denn sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ihre Mutter weinte und ihr Vater sah so angeschlagen aus, so hilflos. Jede einzelne Falte in seinem Gesicht wirkte wie ein tiefer, dunkler Graben. Seine Augen sahen trübe und verquollen aus. »Bist du sicher?«, fragte sie.
»Geh nur.« Er vergrub sein Gesicht in Gails Haar, und Cassie begriff, dass er sie schon gar nicht mehr wahrnahm. Sie ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Auf dem Flur hielt sie noch einmal inne, vernahm ganz deutlich seine nächsten Worte.
»Derselbe Traum?«, fragte er.
Cassie konnte die Antwort nicht hören.
»Es ist meine Schuld«, fuhr er fort. »Ich habe dich im Stich gelassen. Ich hätte dich retten sollen. Es ist meine Schuld. Hasse mich, wenn du nicht anders kannst. Aber hab keine Angst! Du musst keine Angst mehr haben. Es ist vorbei. Es ist alles vorbei. Du bist
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