Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
ihr eigenes Spiegelbild, verzerrt wie ein umgekehrtes Stundenglas. »Wie schwanger bin ich?«
»Das Kind kommt im Herbst, nach der Tag- und Nachtgleiche.«
Er wusste es schon seit mindestens drei Monaten. Monaten! Er musste sie während der Wurfsaison der Eisbären »in Ordnung gebracht« haben, vielleicht sogar schon, als sie das erste Mal miteinander geschlafen hatten. Wieder fühlte sie Übelkeit in sich aufsteigen, und ihr wurde schwindlig. Er hatte sie angelogen. Er hatte sie benutzt.
»Du wirst eine Mutter sein«, sagte er. »Wir werden unser ganz eigenes Wunder erleben.«
Sie wusste nicht, wie das ging, Mutter sein. »Ich bin zu jung für ein Kind«, widersprach sie.
»Dann bin ich wohl zu alt?« Er sah hinaus auf die Eisfelder und fuhr mit leiser, trauriger Stimme fort: »Ich habe geglaubt, es würde dich genauso glücklich machen wie mich. Vielleicht habe ich mir etwas vorgemacht. Ich hatte gehofft, wenn es erst mal Realität wäre, in dir drin, dann würdest du glücklich sein.«
Sie war glücklich gewesen mit allem und genau so, wie es war. Oder wie sie gedacht hatte, dass es wäre. »Du hast dich geirrt.«
»Ich hatte nicht die Absicht, dich zu verletzen. Du weißt, das würde ich niemals tun. Ich bin nicht irgendein Monster, Cassie. Du kennst mich doch.«
Wind raschelte in den Eisblättern. Cassie erschauerte, und tief unten am Horizont zog die Sonne weiter ihre Bahn.
Du kennst mich doch. Cassie hatte die Bettdecke bis zum Kin hochgezogen und lauschte seinem Atem. Sie spürte einen stechenden Schmerz in ihrer Brust. Kannte sie ihn? Sie hatte es jedenfalls geglaubt. Aber jetzt … Hatte er sie wirklich nur benutzt, oder war das alles ein Missverständnis, wie er gesagt hatte? War er der Mann, für den sie ihn hielt? War er überhaupt ein Mann?
Ihr Herz hämmerte ohrenbetäubend laut, als sie sich auf die Matratze kniete und mit der hohlen Hand ihre Taschenlampe abschirmte. Sie hatte ein Recht zu erfahren, wer er wirklich war und was da in ihr heranwuchs, oder etwa nicht?
Sie knipste das Licht an. Es glühte durch ihre Hand, tauchte sie in tiefes Rosa. Bär war jetzt ein Umriss im Halbdunkel. Sie sah, wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen, richtete den Strahl der Taschenlampe gegen die Decke und nahm ihre Hand weg. Das Licht traf den eisigen Betthimmel und wurde tausendfach reflektiert. Regenbogen wirbelten über das Bett.
Und sie sah Bär.
Seine Haut war schwarz wie die eines Eisbären, und sein Haar cremeweiß. Die Taschenlampe zitterte in ihrer Hand, und der Lichtstrahl tanzte über seine Muskeln. Er war wunderschön. Er war so vollkommen und alterslos wie eine Skulptur von Michelangelo. Ihr stockte der Atem.
Er sah aus wie ein Engel. Oder ein Gott.
Sie wollte ihn berühren, seine vertraute Haut spüren, um sicherzugehen, dass dieses göttliche Wesen wirklich ihr Bär war. Nun, da sie ihren Willen hatte, wusste sie trotzdem nicht, was es bedeutete, dass er so wunderschön war. Ihn zu sehen, beantwortete keine einzige ihrer Fragen.
Sie wollte ihn ganz in sich aufnehmen, ihn mit Haut und Haar verschlingen. Sie wollte sich um ihn wickeln, ihn ganz mit sich selbst einhüllen. Sie wollte mit jedem Millimeter ihrer Haut fühlen, dass er real war. Sie beugte sich über ihn und streifte seine Lippen sanft mit den ihren. Bär schlug die Augen auf. »Cassie, nein!«
Cassie ließ die Taschenlampe fallen. Sie traf ihre Hüfte und rollte auf den Fußboden. Schatten breiteten sich über Bär aus, über das Bett, über den ganzen Raum. »Oh, Bär! Nicht!«
Die auf dem Boden liegende Taschenlampe warf gigantische Schatten an die Wände aus Eis. Bärs Schatten streckte sich, als er sich zu voller Größe aufrichtete. Cassie wich instinktiv zurück. Er sah aus wie ein zorniger Gott. »Ich habe dir verboten, mich jemals anzusehen. Du hättest mir vertrauen sollen!«
Sie rappelte sich auf die Knie hoch und stemmte die Hände in die Hüften. » Dir trauen?«
Seine Wut schien genauso schnell aus ihm herauszufließen, wie sie über ihn gekommen war. Er sank auf das Bett und barg sein Gesicht in den Händen. »Oh, Cassie!«
Verwirrt öffnete sie den Mund und schloss ihn wieder. Er schien wirklich völlig außer Fassung zu sein. Aber was war denn so schrecklich daran, dass sie ihn sich angesehen hatte? Er war wunderschön. Er war vollkommen.
»Cassie, meine Cassie!« Er hob den Kopf. Es sah aus, als wäre er den Tränen nahe. Was war bloß los? Zärtlich legte er ihr
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