Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
zusammen. Cassie rannte zur äußeren Mauer. Sie stand nur noch zur Hälfte.
Es war, als risse ein gewaltiger Riese das Schloss entzwei. Türme fielen mit ohrenbetäubendem Krachen von den Mauern zu Boden. Es klang, als ob ein Gletscher kalbte. Die Erde bebte erneut, und Cassie fiel vornüber. Los, beweg dich!, befahl sie sich selbst. Du musst weiter! Schmelzwasser spritzte nach allen Seiten, als sie der Länge nach hinschlug. Während sie stolpernd wieder auf die Füße kam, stürzten die Mauern des Schlosses mit einem lauten Krachen in sich zusammen.
Mit letzter Kraft kämpfte sie sich über die Reste der äußeren, blauen Mauer. Da hörte sie plötzlich ein gewaltiges Rauschen hinter sich, als wäre ein Staudamm geöffnet worden. Lauf! Tosend ergoss sich ein gigantischer Wasserfall über die Brüstung und überflutete das, was von dem Skulpturengarten noch übrig war.
Schnee wirbelte und stürmte, schleuderte Cassie eisige Körner ins Gesicht, auf die Arme. Erneut bebte die Erde, und erneut wurde Cassie zu Boden geworfen. Eisbrocken regneten wie ein Meteoritenschauer auf sie herab. Auf allen vieren kroch sie weiter, atmete Schnee ein. Tränen strömten aus ihren Augen, während sie wieder und wieder von wütenden Eisschauern getroffen wurde.
Dann, ganz plötzlich, trat Stille ein.
Cassie lag zusammengerollt am Boden und keuchte, ihre Muskeln steinhart und verkrampft. Sie hörte das Geräusch fließenden Wassers. Eis klimperte. Sie versuchte die Augen zu öffnen, doch es gelang ihr nicht. Ihre Tränen hatten die Lider zugefroren.
Verdammt, sie musste etwas sehen! Was war passiert? Das Schloss, ihr Zuhause. War sie immer noch zu nahe dran? Sie konnte nicht fliehen, wenn sie nicht sah, wohin.
Cassie zog die Handschuhe aus, spuckte sich auf die Finger und rieb den warmen Speichel auf ihre Augenlider. Wimpern brachen ab. Ihre Hände wurden steif vor Kälte. Trotzdem rieb sie so lange, bis das Eis nachgab und sie die Augen öffnen konnte. Heftig blinzelnd steckte sie ihre halb gefrorenen Hände zurück in die Handschuhe und Fäustlinge.
Überall um sie herum war Weiß. Schnee hing in der Luft. Man konnte unmöglich sagen, wo die Erde aufhörte und der Himmel anfing. Die Welt war jeglicher Farbe beraubt, als ob sie in eine Schüssel mit Milch gefallen wäre. Cassie zurrte ihre Schneebrille fest, stand auf und blickte mit zusammengekniffenen Augen hinaus in den Whiteout. Wo war das Schloss? War es zerfallen? Und was war mit den Gärten? Langsam begann sich das Schneetreiben zu lichten.
Und die Eisbären kamen.
Einer nach dem anderen, tauchten sie wie Geistergestalten aus dem Schnee auf, schienen in der verschwommenen Luft dahinzutreiben. Einer lief ganz nahe an ihr vorbei – zu nahe. Fast hätte er sie gestreift. Cassie erstarrte vor Schreck. Beinahe hätte sie aufgeschrien, traute sich aber nicht. Überall tauchten Bären aus der Weiße auf, bis sie völlig von ihnen umringt war. Eingeschlossen.
Als sich das Schneetreiben legte, erblickte sie noch Hunderte mehr. Sie kamen aus allen Richtungen. Bald konnte sie auch den Garten wieder erkennen, der jetzt eine Wüste aus eisigen Graten war. Die Eisbären wanderten in den Trümmern umher, beschnupperten den Schnee, trampelten über die Reste hinweg. Cassie spürte einen Kloß im Hals und schluckte. All die schönen Skulpturen, die Bär gemacht hatte. Und dann sah sie, was von ihrem Zuhause übrig geblieben war.
Das Schloss war verschwunden. Die Strebepfeiler hatten sich in Eisblöcke verwandelt, die Mauern in Eisberge. Cassie begann zu zittern. Sie hätte zerquetscht werden können. Wäre sie nur ein paar Minuten später aufgewacht … Wäre sie nur ein bisschen langsamer gelaufen … Sie hätte tot sein können. Solange diese Mauern stehen, wird dir hier nichts Böses widerfahren, hatte Bär einmal zu ihr gesagt. Nun, die Mauern standen nicht mehr. Ihr Zuhause war zerstört.
Und Bär war fort.
Sie hatte ihn verloren. Sie hatte Bär tatsächlich verloren.
Cassie spürte, wie sich eisige Messer in ihre Eingeweide bohrten. Ihr Ehemann war fort, ihr Zuhause vernichtet. Sie befand sich tausenddreihundert Meilen nördlich der Station – umgeben von Eisbären.
Und es kamen immer noch mehr. Sie waren überall, so weit das Auge reichte. Cassie steckte zwischen Dutzenden von ihnen fest, bis zum Hals. Ihr Fell presste sich gegen sie, und ihr Atem, der nach toter Robbe roch, stank entsetzlich. Wohin sie auch blickte, überall wogten Rundungen von Hinterteilen wie die
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