Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
und westlich des Mondes
Kapitel Fünfzehn
Geografische Breite: 91° 00 ' 00 " N
Geografische Länge: unbestimmt
Höhe: 4,60 m
Als Cassie aufwachte, war ihr furchtbar kalt. Fröstelnd lag sie auf den seidenen Bettdecken und massierte die Beule an ihrem Hinterkopf. Ein paar Sekunden lang fragte sie sich, warum sie nicht zugedeckt war, wieso ihr kalt war, weshalb ihr Kopf schmerzte. Dann hörte sie das Tröpfeln. Sie lehnte sich über den Rand des Bettes, hob die Taschenlampe vom Fußboden auf und richtete ihren Strahl auf den Bettpfosten. Wasser glänzte im Lichtschein. Tropfen um Tropfen rann an der Eisspirale hinab. Der Betthimmel weinte. Es kann nicht schmelzen. Nicht, solange ich hier bin.
Bär war fort.
Das Bett schmolz.
»Oh nein!«, entfuhr es ihr.
Mit einem Satz sprang Cassie aus dem Bett. Ihre nackten Füße trafen auf blankes Eis. Kälte schoss ihr die Beine hinauf, und sie packte den Bettpfosten, um nicht hinzufallen. Er hatte sich in einen tropfenden Eiszapfen verwandelt. Sie riss die Hand zurück. Kalt! Cassie lief hinüber zu ihrem Rucksack und zog ihr Nachthemd aus. Schlaff sank es zu Boden, wo sich die kostbare Seide im Nu mit Schmelzwasser vollsog. Cassie hüllte sich in ihre Flanellunterwäsche und die Wollsachen. Sie hätte mit Erfrierungen aufwachen können und mit einer Gehirnerschütterung. Ich hätte überhaupt nicht aufwachen können, dachte sie.
Plötzlich gab es einen lauten Knall, als wäre irgendwo ein Gewehr abgefeuert worden – Eis brach. Es klang, als käme es von einer der Wände, dachte Cassie. Und dann hörte sie ein Geräusch, als würden Tausende von Fensterscheiben splittern.
Oh Gott, es war nicht nur das Schlafzimmer. Das ganze Schloss schmolz. Sie musste hier weg – weg aus diesem Zimmer, weg aus diesem Gebäude, hinaus in die Arktis.
Hinaus in die Arktis, aber … Ihr blieb keine Wahl. Sie musste weg hier, und zwar jetzt gleich . Ihr Herz raste, während sie ihre komplette Ausrüstung anzog: Anorak, Mukluks, Gamaschen. Ihr Rucksack stand immer bereit, vollgepackt für die Ausflüge mit Bär. Daher verstrichen nur wenige wertvolle Sekunden, während sie ihn auf den Rücken nahm. Doch mit jeder einzelnen von ihnen steigerte sich das Crescendo der Gewehrschüsse, mit denen das Eis brach. Sie zurrte den Rucksack fest und rannte hinaus auf den Korridor. Dort war es noch schlimmer. Risse schossen durch die Wände aus Eis. Ströme von Schmelzwasser rannen herab. Lauf, lauf, lauf! , schrie es in ihr. Cassie stolperte schlitternd den Korridor entlang. Das Licht der Taschenlampe glitt über tropfende Wände und Decken. Cassie packte das nasse Treppengeländer, bog ab und lief die Wendeltreppe hinunter, die sich in einen Wasserfall verwandelt hatte. Mit einem dumpfen Grollen erzitterte der Boden unter ihren Füßen. Bitte, lass es nicht zusammenstürzen!, flehte sie in Gedanken. Die Decke, die sich über ihr wölbte, und die Türme des Schlosses, die über ihr aufragten, bestanden aus Hunderten Tonnen von Eis. Am Fuß der Treppe hielt sie einen kurzen Moment inne, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und rannte dann weiter durch den Bankettsaal.
Kronleuchter klirrten, als die Halle erbebte. Splitter fielen herab und landeten spritzend in zentimeterhohem Wasser. Eine Karibu-Skulptur kippte um. Überall fielen Eisbrocken von der Decke. Cassie schirmte ihr Gesicht ab. Ein Kronleuchter löste sich aus seiner Halterung. Als er auf den Boden stürzte, flogen Splitter umher wie Schrapnelle.
Cassie rannte durch das Wasser. Schneller, schneller! Ihr Rucksack hüpfte auf und ab. Fresken schälten sich von den Wänden, Statuen stürzten aus ihren Nischen herab. Sie duckte sich, wich den herunterfallenden Eisbrocken aus.
Stützpfeiler bebten. Säulen brachen auseinander. Über ihr liefen tiefe Risse durch die gewölbte Decke. Schwaden von Eisstaub lagen wie dichter Nebel in der Luft. Gerade sprintete sie auf das große Eingangstor mit dem Kristallgitter zu, als sich plötzlich der Fußboden unter ihr aufbäumte. Sie stolperte über die zahllosen Verwerfungen.
Das Tor zersplitterte, und ein Regen aus eisigen Dolchen ging auf sie nieder. Ihren Kopf schützend, stürzte Cassie hindurch. Eisspitzen bohrten sich ihr in Arme und Hals. Schreiend brach sie auf der anderen Seite aus dem Inferno hervor. Der Rucksack knallte gegen ihr Steißbein.
Draußen schmolz der Skulpturengarten. Gesichter zerrannen, Gliedmaßen fielen ab. Unterspült von den Wassermassen, stürzten die Figuren in sich
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