Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
nach Norden zu schicken. Und keine Besatzung würde einer anderen gegenüber zugeben, dass sie die Spuren so vieler Bären verloren hatte. Wahrscheinlich würde es noch Wochen dauern, bis Dad seinen Stolz hinunterschluckte und das National Polar Institute kontaktierte. Sie aber hatte nur Nahrungsmittelvorräte für eine Woche dabei, und davon waren fünf Tagesrationen bereits aufgebraucht. Wenn sie die restlichen Portionen des gefriergetrockneten Essens streckte, ihre Rationen halbierte, könnte sie noch weitere vier Tage auskommen, vielleicht fünf.
Verdammt, Dad sollte es besser wissen, dachte sie ärgerlich. Er wusste von den Munaqsri. Er wusste, dass Dinge geschehen konnten, die eigentlich unmöglich waren. Doch wenn er nicht bald ein Flugzeug schickte … Sie sog eiskalte Luft ein, die brennend in ihre Lungen strömte. Sie durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Irgendjemand würde schon kommen.
Zwei Tage wanderte Cassie weiter und erreichte schließlich den Lomonossow-Rücken. Immer noch kein Max. Immer noch kein Flugzeug. Immer noch keine Rettung. Sie kampierte im Schatten eisiger Monolithe, schräg stehender Eistürme und halb umgekippter Eissäulen und aß eine halbe Ration zu Abend.
Als sie am nächsten Morgen aus ihrem Schlafsack kletterte, würgte ihr Magen das Abendessen wieder hoch, und sie schlug schnell die Hände vor den Mund. Sie konnte es sich nicht leisten, die wertvollen Nährstoffe wieder zu erbrechen. Einiges spritzte zwischen ihren Fingern hervor. Dampfend landeten die körperwarmen Haferbreikleckse auf dem Eis. Cassie schluckte hart und presste die Lippen fest aufeinander. Behalt es drin!, befahl sie sich. Komm schon, behalt es drin!
Noch nie zuvor hatte ihr eigener Körper gegen sie gearbeitet. Ihr war, als würde er eine Art Sabotage von innen betreiben. Sie schluckte bittere Gallenflüssigkeit hinunter und drückte sich eine Handvoll Schnee gegen die Stirn. Jetzt, da ein Baby in ihr heranwuchs, brauchte sie mehr Nahrung, nicht weniger. Vielleicht blieb ihr nicht mal so viel Zeit wie gedacht. Wie hatte Bär ihr das nur antun können?
Zitternd stand Cassie auf und ließ ihren Blick über die eisige Ödnis schweifen. Die strahlte so hell in der Morgensonne, dass ihr die Augen tränten. Der Himmel erschreckend blau, der Horizont zitronengelb. Sie wischte ihre Hände, die im Nu eiskalt geworden waren, an der Hose ab und steckte sie wieder in die Handschuhe. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, sie hatte einen ekligen Geschmack im Mund, und ihr war schwindlig. Ihre Wangen, ungeschützt der eisigen Kälte ausgesetzt, wurden langsam steif. Sie wärmte sie mit Hilfe der Fäustlinge an, bevor sie die steinhart gefrorene Gesichtsmaske aufsetzte. Dann fiel ihr auf, dass die Eisbären wieder da waren und sie mit ihren ausdruckslosen Blicken anstarrten. Sie befahl sich, die Tiere weiterhin zu ignorieren.
Als Cassie ihren Schlafsack in den Rucksack stopfte, knirschte es, und sie konnte ganz unten die Eisbröckchen fühlen, die hineingefallen waren. Hätte sie doch nur ein klein wenig von Bärs Wärmemagie! Sie musste an all ihre gemeinsamen Ausflüge übers Eis denken. Immer hatte sie die Kapuze unten und die Jacke offen lassen können, und der arktische Wind hatte sich auf ihrem Gesicht wie eine Sommerbrise angefühlt. Sie dachte an die Schneeballschlachten im Ballsaal des Schlosses. Bei denen hatte sie die Bälle mit bloßen Händen geformt, und sie waren nicht ein bisschen kalt geworden. Hör auf damit!, schalt sie sich selbst. Sie musste sich aufs Überleben konzentrieren. Konzentrier dich! Sei stark! Geh weiter! Je weiter sie es nach Süden schaffte, desto größer war die Chance, dass Max sie fand. An Bär konnte sie danach denken.
Cassie hievte sich den Rucksack auf ihre schmerzenden Schultern und zog den Hüftgurt fest. Heute musste sie ihre Route sehr sorgfältig wählen. Das Eis um sie herum war brüchig. Aus den Meerestiefen unter ihren Füßen konnte sie das dunkle Grollen der Gezeiten hören. Cassie wählte einen großen Eisblock aus und kletterte hinauf. Oben angekommen, suchte sie systematisch die Landschaft ab. Die Eisbedingungen blieben noch mindestens zehn Meilen weit so schlecht. Während sie den Himmel betrachtete, bewegte sie ganz automatisch ihre Gesichtsmuskulatur, damit sie nicht einfror. Wolken begannen das makellose, brillante Blau zu verunstalten. Ihre Unterseiten reflektierten die wechselnden Eisbedingungen: leuchtend weiß über dickem Eis, grau über dünnem.
Dann checkte
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