Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
für Cassie geschnitzt, als verspätetes Geburtstagsgeschenk, und sie glich ihr bis aufs Haar. Er sagte, sie sei das Herz des Gartens. Und dann sang er ihr ein Geburtstagsständchen. Ein Künstler war er wohl, ein Sänger nicht. Sie musste daran denken, wie sie in unbändiges Gelächter ausgebrochen war, und ihr kamen die Tränen.
Er hatte sie geliebt, oder?
Doch spielte das jetzt noch eine Rolle? Die Skulptur war fort. Bär war fort.
»Hör auf damit!«, sagte sie laut zu sich selbst. Es würde sie töten – der Hunger, die Erschöpfung, ihre eigenen Gedanken. Ihr war, als wäre der Sturm in ihr Innerstes eingedrungen und raste jetzt mit seiner ganzen zerstörerischen Kraft durch ihren Geist, durch ihr Herz, durch alles.
Energisch schob sie die Gedanken beiseite. Ganz still lag sie in ihrem Gefängnis und lauschte nur den Schlägen ihres Herzens. Sie klangen wie beständige Schritte, immer gleich weit entfernt.
Cassie vergaß die Zeit. Irgendwann forderte ihre Blase ihr Recht, und sie kroch nach draußen. Wieder umgab sie von allen Seiten der Whiteout. Schnee wirbelte ihr ins Gesicht. Die Sichtweite war immer noch null. Nicht mal ihre eigenen Füße konnte sie erkennen. Tastend arbeitete sie sich bis zum Ende ihres Schlafsacks vor und kauerte sich unter ihrem Anorak in den Schnee. Sie traute sich nicht, auch nur einen Schritt weiter von ihrer Behausung wegzugehen. Fast konnte sie die Stimme ihres Vaters hören. Wieder und wieder hatte er ihr eingeschärft, sich niemals in einem Whiteout zu bewegen. Sie hatte Geschichten von Leuten gehört, die in einem Whiteout nur fünf Schritte von ihrem Zelt verschollen waren. Und hier, in dieser undurchdringlichen Weiße, glaubte sie sie alle aufs Wort.
Nachdem Cassie in ihren Schlafsack zurückgeklettert war, lag sie da und lauschte dem Wind. Sie dachte über Bär nach. Wie erging es ihm in der Troll-Festung? Was machten die Trolle mit ihm? Gail hatte von ihrer Zeit dort immer noch schreckliche Albträume.
Er hatte so viel riskiert, um sie zu heiraten. Sie musste ihm etwas bedeutet haben. Cassie dachte daran, wie sie bis in die tiefe Nacht hinein geredet hatten, bis sie beide mitten im Satz eingeschlafen waren. Sie erinnerte sich, wie sie Seite an Seite an den Karten und Zahlen gefeilt und bessere Routen für ihre Patrouillen ausgesucht hatten. Sie dachte daran, wie er sie nachts im Arm gehalten, ihr Haar gestreichelt und ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte. Jetzt war er ein Gefangener, genau wie ihre Mutter. Und alles nur, weil sie ein einziges Mal ihre Taschenlampe eingeschaltet hatte.
Stunden später checkte sie erneut die Lage. In mancher Hinsicht hatten sich die Bedingungen verbessert. Der Schneefall hatte so weit nachgelassen, dass sie einen roten Fleck erkennen konnte – ihren Rucksack. Das Ende ihres Schlafsacks konnte sie allerdings immer noch nicht ausmachen. Von ihrer Hüfte abwärts verschwand er im Weiß, als wäre er eine Geistererscheinung. In mancher Hinsicht hatte sich die Lage auch verschlechtert: Dünnerer Schnee reflektierte mehr Sonne. Das blendende Weiß schmerzte, und sie blinzelte ein paar Tränen weg. Ihre Augen fühlten sich an, als hätte jemand Sand hineingestreut – das erste Anzeichen für Schneeblindheit.
Sie kroch wieder zurück in den Schlafsack . Gib es zu, dachte sie, dein Plan ist gescheitert. Max hatte sie trotz der vielen Eisbären nicht gerettet. Und gerade jetzt, während sie in einem Whiteout gefangen saß, kam er ganz sicher nicht. Er hatte sie im Stich gelassen. Und ihr Vater ebenfalls. Genau wie er Gail im Stich gelassen hatte. Genau wie Bär es mit ihr getan hatte, indem er sie eine Meile nördlich des Nordpols allein zurückgelassen hatte. Oder wie sie selbst Bär im Stich gelassen hatte, indem sie trotz seiner inständigen Bitte, ihn niemals anzusehen, nicht darauf gehört hatte.
Der Blick in seinen Augen …
Sie musste dem Eis entkommen. Doch es gab kein Entrinnen.
Die nächst gelegene Insel hieß Ward Hunt Island auf 83° nördlicher Breite und 75° westlicher Länge. Das ist viel zu weit, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Zu viele Meilen und zu wenig Essen. Cassie spielte in Gedanken alle Möglichkeiten durch: Verhungern, Verdursten, Erfrieren, Ertrinken. Dann rollte sie sich zu einer Kugel zusammen und schlang die Arme fest um ihren Körper. »Oh, Bär«, flüsterte sie, »Es tut mir so leid.« Stunde um Stunde verging.
Kapitel Achtzehn
Geografische Breite: 87° 58 ' 23 " N
Geografische Länge: 150° 05 '
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