Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
sicheren Tod. Wie oft hatte Dad ihr das eingeschärft?
Aus dem Eis tief unter ihr ertönte das vertraute Knirschen. Es klang wie die Stimme eines Geistes, ein müdes, trauriges Murmeln. Cassie stellte sich vor, dass es zu ihr sprach, aber sie konnte die einzelnen Worte nicht verstehen. Den Rucksack auf dem Rücken mit sich schleppend wie eine Schildkröte ihren Panzer, kroch sie vorwärts. Ihre Ellenbogen bebten. Zentimeter um Zentimeter schob sie sich weiter über die gefrorenen Wellen.
Genug, dachte sie. Hier war das Eis flach genug. Jetzt konnte sie endlich ausruhen. So lang hingestreckt würde sie aus der Luft, aus Max’ Flugzeug, besser zu erkennen sein, als wenn sie aufrecht stand. Es machte Sinn, sich genau hier hinzulegen. Sie schloss die Augen. Rette mich, Max. Dad. Bär. Bär.
Eine Stimme in ihrem Kopf flüsterte, dass er nicht kommen würde. Dass sie ihn niemals wiedersehen würde. Sie wollte weinen, doch dazu hatte sie keine Kraft mehr.
Weicher Schnee deckte sie zu.
Cassie badete in Wärme. Weiche Kissen umgaben sie. Es war dunkel wie im Mutterleib. Sie kuschelte sich in die weichen Polster, drückte sie gegen ihre Wange. Die Schutzmaske wurde fest gegen ihr Gesicht gepresst. Halb aufgetaut, klebte das nasse Vlies auf ihrer Haut. Es juckte fürchterlich, und Cassie wollte sich die Maske mitsamt der Haut herunterreißen. Sie kroch tiefer hinein in die weichen Kissen. Endlich würde sie es bequem haben, und die blöde Gesichtsmaske würde nicht …
Ein Krampf durchfuhr ihr linkes Bein.
Das weckte sie halb. Ihr Oberschenkel war eingeklemmt, lag in einem merkwürdigen Winkel zwischen den engen Kissen. Sie wälzte sich herum und schnüffelte: saurer Schweiß. Noch nicht tot, dachte sie vage. Aber vielleicht bald. Sie drehte leicht den Kopf, sodass der Rand ihrer Brille nicht mehr schmerzhaft auf die Wangenknochen drückte, und driftete wieder weg.
Sie träumte von Bär. Er lag in seiner Eisbärengestalt neben ihr. Sein warmes Fell drückte gegen ihren Körper, und sein heißer Atem traf ihre Wange. Wieder wachte Cassie auf. Benommen blinzelte sie in die warme Dunkelheit.
Eine Erkenntnis durchfuhr sie: Sie war nicht tot. Am liebsten hätte sie geweint oder geschrien. Sie war nicht tot! Gott sei Dank. Gott sei Dank!
Sie versuchte, sich zu bewegen. Ihre Muskulatur funktionierte noch. Als sie gegen die Kissen drückte, sanken ihre Hände zehn Zentimeter tief darin ein. Doch wegen der dicken Schicht aus Fäustlingen, Handschuhen und Innenfutter, in denen sie steckten, konnte sie die Art des Materials nicht fühlen.
Die Kissen atmeten.
Erschrocken fuhr Cassie zurück, und durch die plötzliche Bewegung drehte sich ihr Magen um. Die ganze Welt schien über ihr zusammenzustürzen, sie unter sich zu begraben, als wäre sie wieder in ihrem Schlafsack im Sturm gefangen. »Lasst mich raus!«, schrie sie, stieß ihre Ellenbogen mitten in das warme Dunkel und versuchte, sich nach oben zu kämpfen.
Schließlich gelang es ihr, sich aus der pelzigen Masse herauszuwinden. Sie tauchte auf und fand sich in einem Meer von Eisbären wieder: schlafende Eisbären, so weit ihr Blick in dem nebligen Weiß reichte. Schwärze trübte ihre Augen und zog sich wieder zurück. Der Schwindelanfall ging vorüber, aber die Bären waren immer noch da. »Großer Gott!«, murmelte Cassie.
Beim Klang ihrer Stimme hoben einige von ihnen den Kopf. Sie schluckte. Ein weiteres Dutzend Bären wandte sich ihr zu und blickte sie ausdruckslos an. Und dann bewegte sich die Masse aus unzähligen Tieren – nicht Kissen –, als wäre sie ein einziges Wesen, und gab Cassie frei. Ihre Beine begannen vor Kälte zu zittern, und der Wind biss gnadenlos zu.
Sie hatten sie warm gehalten, während sie schlief. Die Bären hatten ihr das Leben gerettet. »Großer Gott!«, murmelte sie noch einmal, und dann gaben ihre Knie nach. Sofort schlossen die Bären sie wieder ein, um sie sanft zu stützen, als sie zu Boden glitt.
Cassie wandte den Kopf – und fand sich Nase an Nase mit einem der Raubtiere wieder. Schnaubend schnüffelte es an ihr. Sie schielte zu ihm hoch. »Ihr seid doch bloß normale Bären«, sagte sie dann. »Ihr habt doch überhaupt keine Magie.« Sie verstand es nicht. Der Nebel in ihrem Kopf wollte sich einfach nicht lichten. Sie konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Warum hatten die Bären sie gerettet?
Ein anderer Bär stupste sie mit der Schnauze an.
»Was? Friss mich nicht!«, lallte sie undeutlich. Sie lehnte sich nach
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