Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
entfliehen, wenn sie sich mitten darin befand? Welcher Teil des Waldes war nicht Wald? Der Kessel lief über, und Wasser rann in den Ausguss.
»Cassie, das Wasser«, ermahnte sie Großvater Wald, indem er die Hütte betrat. »Die Quelle ist nicht unerschöpflich.« Mechanisch drehte sie den Wasserhahn zu und starrte ihn dann eine Weile regungslos an.
Wasser. Wasser war nicht Teil des Waldes. Was hatte Großvater Wald gesagt? Die Flüsse gehören nicht zu meinem Gebiet. Und plötzlich wusste sie, wie sie entkommen konnte. Sie brauchte einen Fluss, einen Strom, einen Sumpf. Ja, ein Sumpf wäre perfekt. Der Munaqsri würde nicht imstande sein, die gesamte Uferlänge auf einmal im Auge zu behalten. Sie konnte ihn in der Mitte abhängen und das Moor an einer unerwarteten Stelle wieder verlassen. Doch wie sollte sie jemals in eins gelangen? Großvater Wald würde sie nie wieder nach draußen lassen und in die Nähe von Wasser schon gar nicht. Welche Ausrede würde ihr helfen, in die Nähe eines Gewässers zu kommen?
Die Espe stieß ein Kreischen aus.
»Cassie, den Tee bitte«, sagte Großvater Wald.
Cassie setzte den Kessel auf. Einige Minuten später begann er zu pfeifen. Während sie dampfendes Wasser in eine Tasse goss, nahm eine Idee Gestalt an. Großvater Wald brauchte Wasser für seinen Spezialtee.
Sie trug die Tasse zu ihm hinüber, damit er sie der Espe reichen konnte. Er konzentrierte sich einen Moment auf den Tee, bevor er das Baummädchen ermunterte, ihn zu trinken. Ein paar Schlucke später wirkte es schon wesentlich ruhiger. Großvater Wald warf Cassie einen dankbaren Blick zu. »Nett von dir.«
Cassie lächelte liebenswürdig.
Als Großvater Wald sich am nächsten Morgen ins Wohnzimmer zurückgezogen hatte, traf Cassie die nötigen Vorkehrungen. Nachdem sie einen Blick über die Schulter geworfen hatte, um sicherzugehen, dass sie wirklich allein in der Küche war, begann sie, Schlamm, kleine Holzstückchen und Steinchen in den Wasserhahn zu stopfen. Ab und an half sie mit dem Besenstiel nach. Immer mehr von der Masse rammte sie den Wasserhahn hinauf, bis die Mischung einen harten, zementartigen Propfen bildete. Währenddessen lauschte sie aufmerksam, ob draußen die verräterische Xylophon-Musik der singenden Steine erklang.
Das Baummädchen würde ganz sicher wieder auftauchen. Cassie hatte die beiden am Tag zuvor belauscht. Großvater Wald hatte die Espe nur beruhigt. Ihr Problem war noch nicht gelöst. Sie würde bestimmt wiederkommen.
Als Cassie den Wasserhahn fest verschlossen hatte, richtete sie sich auf und drückte den Rücken durch. Ihr Bauch sackte nach unten. »He, Kleines, was treibst du denn da?« Sie presste die Hände auf die Wölbung. Es fühlte sich tatsächlich an, als wäre darin etwas ein Stück nach unten gerutscht. Ihr Herz schlug schneller. Sie hatte doch noch Zeit, oder? Die Geburt konnte auf keinen Fall hier stattfinden. Keine Ärzte, keine Schwestern, kein Krankenhaus. Kein Max, um sie nach Fairbanks zu bringen. Nur Großvater Wald und seine verrückten Bäume. Sie schloss die Augen. Die Welt drehte sich. Oh Gott, bitte nicht jetzt! Nicht hier!
Sie konnte nicht zulassen, dass ihr Baby bei Großvater Wald zu Welt kam. Es würde aufwachsen wie im Gefängnis. Das durfte nicht geschehen.
»Hallo, kleine Mutter!«, erklang es von draußen.
»Hilf mir«, flüsterte Cassie ihrem Bauch zu. Dann rief sie durch die Fensterläden: »Tut mir ja so leid, das mit den Fichten!«
Mit einer Stimme, die mehrere Oktaven zu hoch war, quiekte das Espenmädchen: »Was ist mit den Fichten?«
»Großvater Wald hat ihnen das ganze Vorgebirge der Mackenzies zugesprochen«, antwortete Cassie. »Er hat es gestern Abend entschieden. Hat er es dir denn nicht gesagt?«
Ihre Worte zeigten genau die erwartete Wirkung. Die Espe ging hoch wie eine Bombe. Sie stieß ein irres Kreischen aus und warf ihren stockartigen Körper mit aller Kraft gegen die Tür, die mit einem gewaltigen Krachen aufsprang.
Großvater Wald kam in die Küche gestürzt.
Die Espe kreischte so laut, dass der ganze Wald erzitterte.
»Cassie, schnell, den Tee!«, rief Großvater Wald. »Sie ist ja völlig außer sich!«
Cassie rannte zum Wasserkessel. Er war passenderweise (und nicht ohne Absicht) vollkommen leer. Sie trug ihn zum Ausguss. Dort angekommen, warf sie einen Blick über die Schulter. Großvater Wald hatte ihr den Rücken zugewandt und redete händeringend auf das völlig hysterische Baummädchen ein. Die Espe
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