Ice - Hüter des Nordens - Durst, S: Ice - Hüter des Nordens
ändern. Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis er seinen Fehler erkannte. Ihre Hand zitterte, als sie sie an den Türknopf legte. Die ganze Zeit über hatte er sich immer benommen wie festes Holz.
Sie packte den Knopf, drehte ihn, zog. Die Tür schwang auf, und Cassie fiel nach draußen. Ihre Knie bebten. Gegen den Türrahmen gelehnt, sog sie in vollen Zügen den frischen Sauerstoff ein. Die Luft schmeckte nach Fichten und Erde, nach Schatten und Sonnenlicht.
»Kleine Mutter, hast du ihn mitgebracht?«
Cassie hörte kaum, was die Espe sagte. Sie ging Richtung Gartentor. Braune, verwelkte Farnwedel strichen über ihre Haut. Unter den nackten Füßen spürte sie das weiche Knistern warmer Fichtennadeln.
Lauf! , flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, lauf!
»Kleine Mutter?« In der Stimme der Espe lag ein gefährlicher Unterton. Sie stampfte mit einem Fußzweig auf, und Cassie wandte ihr wieder ihre volle Aufmerksamkeit zu. Wenn ihre Flucht gelingen sollte, musste sie die Espe unbedingt friedlich stimmen.
»Er hat mich gebeten, es mir an seiner Stelle anzusehen«, erklärte sie. »Und dann soll ich ihm berichten.«
»Wir wollen nur das, was uns rechtmäßig zusteht«, sagte die Espe, nun wieder mit honigsüßer Stimme. »Es ist einfach nicht fair. Andere Bäume haben viel bessere, hellere Standorte.« Cassie öffnete das Gartentor. Mit zitternden Beinen ging sie hindurch, während die Espe fortfuhr: »Einige Bäume wachsen sogar so weit oben, dass sie mit den Winden sprechen können. Aber Espen nie. Das ist überhaupt nicht fair, sondern eine himmelschreiende Ungerechtigkeit.«
Gleich hinter dem Gartenzaun begann der Wald, dunkel und dicht wie in uralten Zeiten. Vertrocknete Farnwedel bedeckten den Boden. Über Cassie bildeten Blätter und Äste ein undurchdringliches Dickicht, das kaum einen Lichtstrahl hindurchließ. Sie konnte sich in dieser Finsternis hoffnungslos verirren. Sie konnte verschwinden.
Cassie sah zurück zur Hütte. Unschuldig wie ein Pfefferkuchenhäuschen stand sie da und glühte im warmen Rosa des anbrechenden Morgens. Durch die Fensterläden war das Auf und Ab der Birkenstimmen zu hören. Großvater Wald konnte jede Sekunde aus dem Haus gestürmt kommen, um sie zurückzuholen. Ihr Herz schlug schnell wie Kolibriflügel. Trotzdem zwang sie sich, nicht loszurennen. Vielleicht beobachtete er sie ja vom Fenster aus. Stattdessen ging sie gemessenen Schrittes in den Wald hinein, bis die Schatten sie verschluckten.
Neben ihr her hüpfte die Espe, nun wieder ganz kleines Mädchen. »Na, was meinst du?«
Cassie wusste, sie bildete es sich nur ein, doch sie hatte das Gefühl, als würden die Bäume sich zu ihr neigen, sie bedrängen, sie ersticken. Während sie sich durch das dichte Unterholz zwängte, vermisste sie schmerzlich die Weite des offenen Packeises. Dort draußen konnte sich ihre Seele weit öffnen – doch hier, hier fühlte sie sich eingesperrt, bekam sogar Platzangst. Gefiltert durch das dichte Dach immergrüner Zweige, war das Licht in diesem Wald unterwassergrün. Überall zwischen den Stämmen wucherten Farne und Schachtelhalme. Sie stieg über Wurzeln und braunblättrige Büsche.
»Hörst du mir überhaupt zu?«, wollte die Espe wissen.
Nein, das tat sie nicht. »Ihr wollt weiter nach oben, zum Licht?«
»Ja!« Die gelben Augen der Espe blitzten. »Einige Bäume, die ganz oben wachsen, können mit den Winden sprechen. Ist das etwa zu viel verlangt? Ein Platz, wo man gehört wird?«
Cassie blickte über die Schulter. Die Hütte war nicht mehr zu sehen. Höchste Zeit loszurennen. Sie hatte keine Ahnung, wie lange es noch dauern würde, bis Großvater Wald seinen Fehler bemerkte. Aber wenn das geschah, dann musste sie ein ganzes Stück außer Reichweite seiner Weinranken sein. Die Arme liebevoll um ihren gerundeten Bauch gelegt, fiel sie in einen leichten Trab. Spitze Steine bohrten sich in ihre nackten Füße.
»Nicht so schnell, kleine Mutter.«
»Wir müssen die Fichten erreichen!«, keuchte Cassie. »Du willst doch, dass ich sie möglichst schnell sehe, oder nicht?« Sobald sie weit genug von der Hütte entfernt waren, würde sie die Espe ablenken und sie irgendwie abhängen. Immer wieder blieb ihr Rock an Büschen hängen oder wickelte sich um ihre Fußgelenke. Schließlich bückte sie sich, machte ihn los und raffte ihn hoch bis zu den Hüften. Dann lief sie weiter, schneller.
Die Espe eilte ihr nach. »Aber das ist die falsche Richtung!«, kreischte sie laut. »Meine
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