Ice Ship - Tödliche Fracht
diese harmlose Führung durch ihr Schiff. »Mr. Glinn hat vorhin eine recht geschickte kleine Ansprache gehalten«, sagte sie. »Wissen Sie, eine Schiffs-Crew kann sehr abergläubisch sein. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schnell aus Gerüchten und Spekulationen unter Deck Fakten werden. Ich denke, Glinn hat mit seinen Erläuterungen allen Gerüchten und Vermutungen für eine Weile einen Riegel vorgeschoben.« Nach einer längeren Pause fuhr sie fort: »Ich nehme an, er weiß viel mehr, als er gesagt hat. Trotzdem bin ich überzeugt ... nein, sagen wir lieber: Ich glaube, dass er vielleicht weniger weiß, als er sich anmerken lässt.« Ihr Blick schien McFarlane festzunageln. »Habe ich Recht?« McFarlane zögerte. Er hatte keine Ahnung, was Lloyd oder Glinn ihr gesagt – oder, was wichtiger war: verschwiegen hatten. Seiner Meinung nach war es für das Wohl und Wehe dieses Schiffs besser, wenn sie möglichst viel wusste. Er empfand eine Art Seelenverwandtschaft mit ihr. Sie hatten beide schwere Fehler begangen und waren beide im Motodrom des Lebens mehr herumgewirbelt worden als so manch anderer. Seine innere Stimme sagte ihm, dass er Sally Britton vertrauen konnte. »Sie haben Recht. Die Wahrheit ist, dass wir so gut wie nichts über den Meteoriten wissen. Zum Beispiel, wie ein derart riesiger Gesteinsbrocken den Aufschlag überstehen konnte, ohne zu zerbersten. Und warum er nicht längst vom Rost zerfressen wurde. Die wenigen Daten, die wir über seine elektromagnetischen Kräfte und sein Gravitationsfeld haben, scheinen widersprüchlich zu sein. Sie können einfach nicht stimmen, das ist physikalisch unmöglich.« »Ich verstehe.« Britton sah ihm in die Augen. »Ist er gefährlich?« »Es gibt keinen Grund, das anzunehmen.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Allerdings auch keinen, es auszuschließen.« Langes Schweigen. »Was ich meine, ist: Stellt er ein Risiko für mein Schiff oder meine Crew dar?« McFarlane nagte an der Unterlippe. »Ein Risiko? Er ist verteufelt schwer. Es wird sehr schwierig sein, ihn auszugraben und wegzuschaffen. Aber sobald wir ihn erst mal im Lastenschlitten haben, dürfte er meiner Meinung nach ungefährlicher sein als eine Ladung leicht entflammbaren Öls.« Er sah sie an. »Und da ist noch etwas. Glinn gehört, glaube ich, zu den Leuten, die nichts dem Zufall überlassen.« Britton ließ sich das einen Augenblick durch den Kopf gehen, dann nickte sie. »So schätze ich ihn auch ein. Zu vorsichtig, um sich einen Fehler zu erlauben.« Sie drückte den Rufknopf des Lifts. »Es ist ein beruhigendes Gefühl, solche Leute an Bord zu haben. Denn sollte ich noch einmal ein Schiff auf ein Riff setzen, dann gehe ich mit ihm unter.«
Rolvaag
3. Juli, 14.15 Uhr
Weit im Westen war gerade noch die brasilianische Küste mit der Mündung des Amazonas auszumachen, die Rolvaag schickte sich an, den Äquator zu überqueren. Und so nahm nun am Bug des Schiffes ein althergebrachtes Zeremoniell seinen Lauf, das seit Jahrhunderten zur christlichen Seefahrt gehörte wie Skorbut und der Klabautermann. Etliche Decks tiefer und fast dreihundert Meter achtern war Dr. Patrick Brambell dabei, seinen letzten Bücherkarton auszupacken. Die Äquatorüber-querung war für ihn ein alter Hut; er hatte sie als Schiffsarzt jedes Jahr mindestens einmal erlebt, und die Bräuche, denen dabei gefrönt wurde, waren ihm ohnehin zutiefst zuwider. Das vulgäre Gelächter, wenn die alten Fahrensleute den Neulingen »Neptuns-Tee« einflößten – einen Aufguss aus gekochten Socken und Schutzhandschuhen, an denen noch der Fischschleim klebte – einfach ekelhaft. Nein, da widmete er sich lieber seinen geliebten Büchern. Mit dem Auspacken seiner umfangreichen Bibliothek war er beschäftigt, seit die Rolvaag in Elizabeth abgelegt hatte. Bücher auszupacken machte ihm fast so viel Vergnügen, wie sie zu lesen, und er nahm sich für beides viel Zeit. Er schlitzte mit dem Skalpell das Klebeband auf, klappte den Deckel hoch und nahm liebevoll das oberste Buch heraus – Burtons »Anatomie der Melancholie«. Seine Finger liebkosten den feinen Halbledereinband, bevor er das Buch in das letzte freie Regal in seiner Kabine stellte. Dann war das »Orlando Furioso« an der Reihe, danach Huysmans »Gegen den Sturm«, Coleridges »Vorlesungen über Shakespeare«, Dr. Johnsons Essays im »Rambler« und Newmans »Apologia pro Vita Sua«. Medizinische Bücher enthielt seine Reisebibliothek nicht;
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