Ice Ship - Tödliche Fracht
einem grauen Trainingsanzug bekleideten Joggers an der Backbordreling entlangtraben. Und dann erkannte er in der Gestalt Sally Britton. »Typisch. Nur sie ist Manns genug, bei diesem Wetter joggen zu gehen«, stichelte Amira. »Ja, sie ist ziemlich hart im Nehmen.« »Ich würde das eher verrückt nennen«, meinte Amira boshaft. »Sehen Sie, wie es unter dem Sweatshirt hüpft und wogt?« McFarlane sagte nichts. Er fühlte sich ertappt, weil er auch gerade hingestarrt hatte. »Nicht, dass Sie mich missverstehen, ich registriere das aus rein wissenschaftlichem Interesse. Weil ich mich nämlich frage, wie man bei derart eindrucksvollen Brüsten zu einer brauchbaren statischen Berechnung kommen soll.« »Was für eine statische Berechnung denn?« »Die Lieblingsbeschäftigung aller Physiker. Man berücksichtigt dabei alle physischen Gegebenheiten eines Objekts -Temperatur, Druckverhältnisse, Dichte, Elastizität...« »Schon gut«, fiel ihr McFarlane ins Wort, »das war anschaulich genug formuliert.« Amira wechselte rasch das Thema. »Sehen Sie mal, dort drüben liegt wieder ein Wrack.« In der kalten Winterluft konnte McFarlane in einiger Entfernung die Umrisse eines großen Schiffes ausmachen, dessen Heck offenbar an einem Felsen zerschellt war. »Wie viele sind’s jetzt – vier?«, rätselte Amira. »Ich glaube, das ist das Fünfte.« Auf der Fahrt von Puerto Williams nach Kap Hoorn waren sie immer häufiger an gestrandeten Schiffen vorbeigekommen, einige davon fast so groß wie die Rolvaag. Irgendwie erinnerte die Route fatal an einen Schiffsfriedhof. »Ah, man gibt sich die Ehre«, murmelte Amira. Brittons Schritt verlangsamte sich, sie joggte auf der Stelle. Der vom Schneeregen durchweichte Trainingsanzug klebte ihr hauteng auf dem Körper. McFarlane musste unwillkürlich an Amiras statische Berechnung denken. »Guten Morgen«, grüßte Britton. »Dann kann ich Sie ja gleich informieren: Ich habe vor, ab neun Uhr das Betreten des Decks ohne Schwimmweste zu verbieten.« »Warum das?,« fragte McFarlane. »Ein Sturm kommt auf.« »Kommt auf?« Amira lachte trocken. »Ich würde sagen, wir sind mitten drin.« Britton beachtete sie gar nicht, sie sah weiter McFarlane an. »Sobald wir aus dem Lee der Isla Navarino sind, müssen wir mit starken Böen rechnen – daher die Schwimmwesten.« Sie nickte McFarlane zu und trabte weiter. »Danke für die Warnung«, rief er ihr nach, wandte sich, als sie außer Hörweite war, zu Amira um und fragte: »Was haben Sie eigentlich gegen unseren Kapitän?« Amira zögerte. Erst nach einer Weile erwiderte sie: »Irgendwas an dieser Sally Britton ärgert mich. Sie ist zu perfekt.« »Ich nehme an, das gehört dazu, wenn jemand das ausstrahlt, was im Allgemeinen mit dem Begriff ›Führungsqualitäten‹ bezeichnet wird.« »Und dann die Sache mit den Getränken. Sie hat ein Alkoholproblem, und alle anderen müssen dafür büßen. Ich finde das nicht fair.« McFarlane fühlte sich verpflichtet, das zurechtzurücken. »Die Anordnung war Glinns Entscheidung.« Sie sah ihn verdutzt an, dann schüttelte sie seufzend den Kopf. »Ja, das sieht Eli wieder mal ähnlich, finden Sie nicht? Ich wette, wenn er die Entscheidung getroffen hat, gibt es irgendwelche zwingend logischen Gründe dafür. Aber die will er natürlich keinem auf die Nase binden.« Der Wind frischte auf, McFarlane fröstelte. »Also, ich habe für eine Weile genug frische Luft geschnappt. Wollen wir mal probieren, ob wir schon Frühstück bekommen?« Amira stöhnte gequält auf. »Gehen Sie schon voraus, ich warte lieber noch ein bisschen. Sie wissen ja: Mir liegt was im Magen; aber irgendwann muss es ja rauskommen.«
Nach dem Frühstück machte McFarlane sich auf den Weg zur Bibliothek, Glinn hatte ihn gebeten, sich dort mit ihm zu treffen. Der Raum war riesig, wie alles auf dem Tanker. Die Fensterfront, die sich über die ganze Längswand erstreckte, war mit Schnee bestäubt. Dahinter schien sich – endlos weit – eine schwarze Wasserwüste zu dehnen, über der eine Wand aus Schneegriesel fast waagerecht auf sie zutrieb. Die Regale enthielten ein breit gefächertes Büchersortiment: nautische Fachliteratur, Enzyklopädien, halb vergessene Bestseller und Lesestoff à la Reader’s Digest. Während er – um sich die Zeit zu vertreiben, bis Glinn kam – die Reihen überflog, merkte er, wie sich Unruhe in ihm breit machte. Je näher sie der Isla Desolación kamen – dem Ort, an dem Masangkay gestorben war –, desto
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