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Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus

Titel: Ich arbeite immer noch in einem Irrenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Wehrle
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nachmittags bekam er frei – »um das Geschirr abzuwaschen«, wie böse Zungen behaupteten.
    Seit 2008 ist der Tiefpunkt erreicht: Jetzt gibt es nur noch ein Abendessen mit dem Chef, für alle Jubilare eines Jahres zusammen. Dieselbe Firma, die einst Hunderte von Euros für eine Schweizer Uhr ausgab, legt fürs Essen noch 18,50 Euro hin. Als Nachtisch gibt’s eine unverdauliche Rede des Chefs, immer mit demselben Tenor: Seine Firma halte ihren Mitarbeitern die Treue, auch in wirtschaftlich schweren Zeiten – was man an diesen vielen Jubiläen wieder eindrucksvoll sehe!
    Mit anderen Worten: Nicht die Firma muss sich für die Treue ihrer Mitarbeiter bedanken – sondern die Mitarbeiter müssen sich bei der Firma bedanken, dass man sie noch nicht auf die Straße gesetzt hat. Der reinste Gnadenakt!
    Ich bin nun im achten Dienstjahr und überlege, ob ich der Firma zum Zehnjährigen aus Dankbarkeit für ihre Treue eine goldene Uhr schenken soll. Oder wenigstens einen meiner Urlaubstage verfallen lassen. Die Ironie eines solchen Geschenkes – sicher fiele sie meinem Chef nicht auf.
    Helmut Jung, Werftinspektor

Die Rache der Heizung
    Sie kamen aus dem Nichts, die Handwerker in ihren Blaumännern, wuselten durch die Einzelbüros eines Metallbauers, vermaßen die Wände und klopften darauf herum. Die Mitarbeiter fragten sich: Was führte ihre Irrenhaus-Direktion nun schon wieder im Schilde? Aus der Gerüchteküche brodelte empor: Das Firmengebäude soll auf den neuesten Stand gebracht werden.
    Höchste Zeit! Die Firma hauste am Rande Ost-Berlins in einem Altbau, gegen den jede Hundehütte ein Palast war. Die Fenster waren so schlecht isoliert, dass der Wind angelehnte Türen klappern und im Winter Mitarbeiter schlottern ließ. Etliche kleideten sich bei Kälte so, als hätten sie gerade eine Polarexpedition vor sich. Ohne Norwegerpullover, kombiniert mit Schal, lief im Büro gar nichts. Höchstens die Nase! Und wenn sie Gäste hatten, lautete die Frage: Durfte man sie zum Ablegen des Mantels auffordern? Oder erfüllte das schon den Tatbestand der versuchten Körperverletzung?
    Natürlich gab es auch eine Heizung. Ihr geräuschvoller Todeskampf dauerte nun schon zwei Jahrzehnte. Zu Beginn jedes Winters knackte sie wie ein Spukhaus, erkaltete und wurde ein, zwei Tage lang von hämmernden Monteuren reanimiert. Derweil bekamen die Mitarbeiter vom Hausmeister Heizlüfter, was zu einer dröhnenden Geräuschkulisse und zum tagelangen Ausfall der Stauballergiker führte. Doch die Heizung konnte auch anders: Denn dann wieder litt sie an einem unerklärlichen Fieber und verbreitete subtropische Hitze. Wer schwitzend den Regler nach unten drehte, konnte der Heizung nur ein höhnisches Knacken entlocken.
    Trotzdem sehnten die Mitarbeiter den Sommer herbei, weil er sie dem Diktat der Heizung entriss. Und sie fürchteten ihn, weil er sie einem neuen Diktat auslieferte: dem der Sonne. Die Isolierung des Gebäudes bot jeder Hitzeperiode freien Eintritt. Und war die Hitze einmal drin, gefiel es ihr in den uralten Räumen so gut, dass sie sich dort auch über Nacht einnistete. Mehrfach war das Thermometer im Sommer auf über 35 Grad geklettert. Wer an solchen Tagen eine Krawatte trug, hätte sich genauso gut eine Schlinge um den Hals legen können; es war nicht auszuhalten. Einige Mitarbeiter hatten am späten Nachmittag mehr Kleidungsstücke an ­ihren Stuhllehnen hängen als am Körper.
    Das Gebäude war noch vor dem Zweiten Weltkrieg vom Großvater des heutigen Firmeninhabers gebaut worden, und die Mitarbeiter des Metallbauers nahmen es den Alliierten persönlich übel, dass sie ausgerechnet dieses klobige Haus, damals ein Rüstungsbetrieb, bei ihren Bombenangriffen mehrfach verfehlt hatten.
    Die Irrenhaus-Direktoren sahen das anders. Sie residierten im vierten Stock, und eine Klimaanlage fächelte ihnen Luft zu. Nach außen wurde der Schein gewahrt: Das Gebäude war von einem parkähnlichen Grundstück umgeben. Die Empfangshalle war kurz nach der Wende renoviert und mit schicken Bildern geschmückt worden. Der Fahrstuhl ließ den wichtigen Besucher ­geradewegs in den vierten Stock schweben, wo er über weichen Teppichboden flanieren und sich angenehmer Temperaturen erfreuen konnte.
    Die Beschwerden der Mitarbeiter waren immer wieder abgewiesen worden. Offenbar waren die

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