Ich arbeite in einem Irrenhaus
Verhalten sollte das Selbstbetrugs-Dezernat auf den Plan rufen. Wer gleichzeitig einem Irrenhaus dient und es kritisiert, ist ein lebender Widerspruch. Wie kann ihm dieser schmerzhafte Spagat gelingen, ohne dass es ihn in Stücke reißt? Er braucht eine Legende, die sein Verhalten erklärt, eine Schwindelei, mit der er sein Gewissen beruhigen und sein Gesicht vor anderen wahren kann.
Jede Woche begegne ich in der Beratung Menschen, die einerseits den Irrsinn ihrer Firma anklagen – die aber andererseits tausend Gründe nennen, warum sie diesem Irrsinn weiter dienen müssen.
Die Palette der Ausreden ist breit. Hier vier Beispiele, von mir kommentiert:
Der Mitarbeiter sagt: Wenn ich weggehe, …
1. … dann geht es mit der Firma noch mehr den Bach runter.
Gesponnene Legende: Ich bin der einzige Normale hier, trage das Licht der Vernunft und will es nicht erlöschen lassen – sonst versinkt die Firma in Dunkelheit. Zum Nachteil aller.
Mein Kommentar: Dieses Licht der Vernunft kann nicht allzu weit reichen – oder warum sonst herrscht finsterer Irrsinn? Hier macht sich einer keine Sorgen um das Unternehmen, sondern um sich selbst: Er könnte den Bach runtergehen, wenn er das vertraute Terrain des Irrsinns verlässt.
Menschen lieben Konstanz. Und ein Irrenhaus bietet immerhin konstanten Irrsinn. An ihm kann sich der Mitarbeiter abarbeiten wie Don Quijote an den Windmühlenflügeln. Der Kampf mit dem Irrsinn scheint dem Leben einen Sinn zu geben – auch wenn der wahre Sinn dabei abhandenkommt.
2. … dann lasse ich die Kollegen im Regen stehen.
Gesponnene Legende: Dieser Irrsinn ist nicht auszuhalten – es sei denn, all diese Minuszeichen werden durch ein Mega-Pluszeichen, durch einen Ausbund an Charakterstärke, durch meine Anwesenheit ausgeglichen!
Mein Kommentar: Wer zu feige ist, sich selbst retten, kann diese Feigheit in ein hübsches Kleid stecken – und sie als Solidarität gegenüber den Kollegen tarnen. Aber wäre es nicht fairer, den anderen einen Weg zu weisen, der aus dem Irrsinn hinausführt – statt dem Irrsinn, der gegenwärtig herrscht, durch Ausharren in der Firma zur Allgegenwart zu verhelfen?
3. … dann hätte ich ein Problem auf dem Arbeitsmarkt, weil ich – jetzt wechselweise – zu alt oder zu jung bin, zu über- oder zu unterqualifiziert, zu spezialisiert oder zu generalisiert usw.
Gesponnene Legende: Das Irrenhaus ist ausbruchsicher. Ich will zwar raus – aber es gibt keine Möglichkeit, den Gitterstäben zu entfliehen.
Mein Kommentar: Bei allen Irrenhaus-Mitarbeitern, die mir mit diesem Argument kommen, stelle ich die Frage: »Was genau haben Sie bislang unternommen, um eine Firma zu finden, die besser zu Ihnen passt?« Die meisten antworten: »Noch nichts.« Dass es keinen Zweck habe, ist nur eine Mutmaßung, ein Alibi.
Die Gitter, hinter denen diese Mitarbeiter sitzen, habe nichts mit dem Irrenhaus zu tun – sondern mit ihren eigenen Überzeugungen. Sie haben sich mit dem Irrsinn eingerichtet wie mit einem verschlissenen Möbelstück, das man eigentlich erneuern müsste, aber es aus einer Mischung von Trägheit und Gewohnheit dann doch nicht tut.
4. … dann würde ich all meine Ansprüche aufgeben, zum Beispiel auf die jährliche Prämie, auf die lange Kündigungsfrist, auf die Betriebsrente.
Gesponnene Legende: Der einzige Grund, warum ich diese Hochburg der Unvernunft nicht verlasse, heißt: Vernunft. Nur die materiellen Fußfesseln, die sich auf Heller und Cent errechnen lassen, halten mich hier fest; sonst wäre ich schon lange in die Freiheit gestürmt.
Mein Kommentar: Ja was denn nun? Wird jedes psychopathische Irrenhaus zur nährenden Mutter, an der man sich festsaugt, so- lange nur Geld fließt? Und was sind lange Kündigungsfristen eigentlich wert, wenn sie einen nur im falschen Leben, im Irrsinn, festhalten? Können solche materiellen Erwägungen wirklich schwerer wiegen als die Tatsache, dass man jeden Tag gegen seine Werte, seine Überzeugungen, seine Natur lebt?
Wenn ja, gibt es dafür nur eine Erklärung: Der Irrsinn ist bereits auf den Insassen übergesprungen.
Verurteile ich diese Ausreden? Weit gefehlt. Solche Sätze sind mir selbst schon über die Lippen gesprungen. Aber meine Beobachtung war: Wenn man sich selbst in die Tasche lügt, wird die Tasche immer voller, die seelische Belastung immer größer. Und eines Tages fallen einem die Lügen auf die Füße, ist die Realität nicht mehr zu leugnen. Dann hat sich der Zahn des Irrsinns
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