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Ich beschütze dich

Ich beschütze dich

Titel: Ich beschütze dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Penny Hancock
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ich von einem Brief abgelenkt, der unter dem Palästinensertuch zum Vorschein gekommen ist. Wie alle Briefe von Seb an mich ist er über die Adresse von Mark in Vanburgh Hill gelaufen. Mark hat die Briefe hergebracht und in einer Mauernische am Uferweg versteckt, die wir uns als perfekten stummen Briefkasten ausgesucht hatten.
    Auf dem Umschlag sind eine Briefmarke für neun Pence und ein Poststempel – 1. Februar. Das Jahr kann man nicht mehr lesen. Ich vergesse die Mundharmonika für den Moment, öffne den aufgerissenen Umschlag und ziehe den Brief heraus. Die Handschrift, klein, säuberlich und eng, verrät nichts von Sebs Statur. Seit damals habe ich mir den Brief nicht mehr angesehen.
    Sonia!!!!!!!
    Noch einen Monat in diesem Loch halte ich nicht aus. Keine Mädchen. Nicht mal so abgedrehte wie du, die mir gehorchen! Der ganze Laden hier macht mich langsam irre, und der Fluss ist so verdammt weit weg. Das merke ich jetzt erst richtig.
    Du musst mir helfen. Ich habe einen Plan. Die Köchin lässt ihr Fahrrad draußen stehen, ohne abzuschließen. Das leihe ich mir. Es muss am 12. Februar sein. Ich habe die Gezeiten ausgerechnet und alles. Ich haue mittags ab, dann sind alle mit Essen beschäftigt und merken nichts. Ich fahre zu der Isle of Dogs. Du musst auch da sein. Komm mit Tamasa ! Auf dem Heimweg gönnen wir uns ein kleines Abenteuer mit dem Floß. Ich gebe dir Morsezeichen. Gegen vier Uhr. Trödel nicht rum. Wenn du das Licht siehst, musst du kommen. Rudere ein Stück den Fluss rauf, ich passe den Gezeitenwechsel ab. Komm zur Anlegestelle, ich warte da. Wenn ich wieder auf unserer Flussseite bin, verstecke ich mich. Komm auf jeden Fall!
    Ich schließe die Augen. Krümme langsam die Finger, bis das dünne Papier in meiner Handfläche zerknittert. Ich knülle es fest zusammen.
    Wie lange war Seb damals weg? Sicher nicht mehr als ein, zwei Monate. Aber es kam mir vor wie ein ganzes Leben. Hätten wir einen weiteren Monat gewartet, hätten die Ferien angefangen. Aber Zeit ist so dehnbar und wenig greifbar, dass sich damals schon ein einziger Tag wie eine Ewigkeit angefühlt hat. Ich wartete noch ungeduldiger darauf, ihn wieder bei mir zu haben, als er darauf wartete, aus dieser verhassten Schule zu kommen. Ich war ihm hörig. Für ihn hätte ich alles getan. Ich konnte gar nicht anders. Mit Jez ist es genauso. Ich werde alles für ihn tun.
    Ich finde die Mundharmonika in ihrem schmalen, roten Kästchen. Lasse die Finger über die Löcher gleiten, durch die Sebs Atem gestrichen ist. Bei dem Gedanken, dass Jez’ Atem das Gleiche tun wird, verspüre ich eine tiefe Befriedigung.
    Ich bringe Jez die Mundharmonika auf einem Tablett zusammen mit warmer Suppe, einem Brötchen und einem großen Krug Eiswasser. Um aufzuschließen, stelle ich das Tablett im Flur auf den Boden. Als ich das Musikzimmer betrete, prallt etwas von rechts gegen mich, so dass ich vor das Bücherregal geworfen werde und die Tür aufschwingt. Ich greife in das Regal, um mich festzuhalten, aber die Bücher rutschen zur Seite. Ich stolpere, falle und lande auf dem Boden, neben der weit offenen Tür.
    »Jez, bitte nicht.«
    Er verschwindet durch die Tür, bevor ich mich auch nur aufsetzen kann.
    »Ich habe dir die Mundharmonika mitgebracht! Warte auf mich!«
    Ich merke selbst, wie armselig ich mich anhöre, während ich zwischen den heruntergefallenen Büchern strample, alle Farben verblassen und mich tiefe Verzweiflung überkommt.
    »Bitte, bitte, ich mache, was du willst. Geh nicht.«
    Dann höre ich, wie es scheppert, Glas zerbricht und etwas die Treppe hinunterfällt, gefolgt von einem Aufschrei. Endlich komme ich auf die Füße, schiebe die Bücher beiseite und humple zur Tür.
    Jez liegt lang hingeschlagen am oberen Ende der Treppe. Der Absatz ist voller Wasser und Glasscherben. Als ich näher komme, dreht er sich herum und starrt zu mir hoch. Sein Gesichtsausdruck erschreckt mich mehr als alles andere.
    Es ist nackte Angst.
    Er schiebt sich ein Stück weg von mir, mit einer Hand umklammert er seinen rechten Knöchel. Mit der anderen hält er die Suppenschale über den Kopf, als würde er zielen, als wollte er sie gleich nach mir werfen. Ich greife nach seiner Hand, er schleudert die Schale, aber sie verfehlt mich und zerschellt am Türrahmen.
    Nach einem Moment Schweigen gehe ich vor ihm in die Hocke und sehe ihn so liebevoll und freundlich an, wie ich nur kann.
    »Jez, du bist verletzt. Du musst dir von mir helfen lassen.«
    »Ich will nach

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