Ich beschütze dich
Sorgen als jemals um unsere Jungs. Ehrlich gesagt ist mir das alles ziemlich auf die Nerven gegangen. Aber seit Jez verschwunden ist, benimmt sich Mick völlig selbstgerecht und meint, wir – das heißt eigentlich ich – hätten den Jungen in Watte packen müssen.«
Die Oper füllt sich langsam mit den Gästen der Abendvorstellung. Draußen ist es dunkel. Helen schlägt eine zweite Flasche Wein vor, doch ich lehne ab, weil ich einen klaren Kopf behalten will.
Wie lange sitzen wir hier schon? Warum trägt heutzutage niemand mehr eine Uhr? Ich gebe mir Mühe, meine Unruhe vor Helen zu verbergen. In dieser Hinsicht ist der Alkohol ein Segen, sie nimmt ihre unmittelbare Umgebung nur gedämpft wahr.
Jez hat alles, was er braucht. Er ist in Sicherheit. Hat Decken, die ihn warm halten. Ihm kann nichts geschehen. Aber mittlerweile muss er halb verhungert sein. Und durstig. Und nass. Und frieren. Und, obwohl ich es mir kaum vorstellen mag, wird er in die Hose gemacht haben. Judy war heute Vormittag allein im Haus. Könnte sie etwas gefunden haben, das mir entgangen ist? Sogar Kit, die andere und wichtigere Dinge im Kopf hat, hat bemerkt, dass die akustische Gitarre fehlt. Judy entgeht nichts. Auch wenn sie nicht gebildet ist, hat sie einen scharfen Verstand und nimmt damit jede Kleinigkeit im Leben anderer Menschen wahr.
Ich rutsche auf meinem Stuhl hin und her. Wie sorgfältig habe ich die Garage hergerichtet? Wie gründlich habe ich meine Spuren verwischt? Was könnte Judy sehen? Dass die Garagenschlüssel nicht an ihrem üblichen Haken hängen? Dass aus dem Wäscheschrank Laken fehlen? Nein. Aus diesen Dingen könnte sie sich unmöglich eine so ungeheure Erklärung zusammenreimen, selbst wenn sie stimmt.
Als Helen mit dem Wein zurückkehrt, entschuldige ich mich und laufe zur Toilette. Ich erleichtere mich in dem luxuriösen Waschraum des Royal Opera House, dann lehne ich lange an dem gläsernen Waschbecken, um mich zu sammeln. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich Frauen vor dem Nachbarspiegel die Lippen nachziehen, verirrte Haarsträhnen feststecken und ihre Kleider glattstreichen. Als ich mich zögerlich selbst mustere, befürchte ich, ein verändertes Gesicht könnte zurückblicken, auf dem sich geheimste Gedanken und Ängste widerspiegeln. Ich bin überrascht, wie normal ich aussehe. Immer noch dieselben grauen Augen, dasselbe schwarze Haar. Erst ein, zwei silberne Haare schimmern durch. Ich nehme meinen Lippenstift aus der Handtasche, trage ihn auf und sehe wieder aus wie neu. Ich atme tief durch. Ich werde mir eine dringende SMS von irgendwem einfallen lassen. Egal was, ich will nur zu Jez.
Helen blickt auf, als ich durch das Foyer zurückkomme.
»Hast du abgenommen, Süße?«, fragt sie, als würde sie mich heute zum ersten Mal ansehen. »Meine Güte. Ja, bestimmt. Du siehst toll aus. Nadia hat schon gesagt, wie gut du aussiehst. Wie hast du das geschafft?«
Ich zucke mit den Schultern. Ich möchte ihr sagen können, dass es an meiner Nervosität liegt, daran, dass ich ständig angespannt bin. Gerne würde ich ihr das sagen, sie war einmal meine Freundin. Ich blicke ihr in die Augen und sehe, dass sie schon in ihre eigene Welt abgedriftet ist, in ihre eigene Geschichte, und spüre diese Kluft, die sich zu einem Menschen auftut, mit dem man ein tiefes Geheimnis einfach nicht teilen kann.
»Ich glaube, Mick hat genug von mir«, sagt Helen. »Er kann mich nicht mal mehr sehen. Ich habe Angst, dass er und Maria … sich näherkommen.«
»Ach was«, sage ich. »Er fühlt sich verantwortlich, weil er sich nicht mehr um Jez gekümmert hat, das ist alles. Jetzt will er sein schlechtes Gewissen beruhigen, indem er dir die Schuld zuschiebt. So hört sich das jedenfalls für mich an.«
»Glaubst du wirklich?«
»Ja.«
»Warum kämmt er sich dann ständig und geht laufen und tätschelt sich den Bauch?«
Ich lache. Zurzeit ein seltsames Geräusch aus meinem Mund.
»Klingt nach einer klassischen Midlife-Crisis«, sage ich.
»Und Jez. Sollte ich mir mehr Sorgen um ihn und weniger um Mick machen?«
»Nein! Es ist völlig richtig, dass du dich wegen Jez nicht verrückt machst. Teenager. Die machen doch, was sie wollen.«
»Er ist noch sehr jung, Sonia.«
»Egal. Man kann sie doch nicht wie Kinder behüten, herrje. Jez hat seinen eigenen Kopf. Natürlich musstest du ihn alleine losziehen lassen. Er muss sich seinen Weg suchen. Und genau das wird er tun, Helen. Deine Schwester klingt richtig erdrückend.
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